Ein Blick in Brasiliens Telefonbücher fördert Empörendes zutage: Landesweit tragen erstaunlich viele Männer die amtlichen Vornamen Hitler und Adolf Hitler. In São Paulo gibt es sogar einen Himmler Hitler Göring Ferreira Santos. In Amazonien sind Indianer als Hitler oder als Eichmann registriert, im brasilianischen Nordosten führt ein Rundfunkmoderator den Kriegsverbrecher im Namen.
Man hält es kaum für möglich, will der Sache auf den Grund gehen, nimmt Kontakt zu solchen Hitlers auf – und bekommt fast immer zu hören: »Ja, mein Vater bewunderte den Naziführer. Er hat mir deshalb diesen Namen verpasst.« In Ländern wie Deutschland würde sich wohl jeder so rasch wie möglich umbenennen lassen, auch in Brasilien ist dies problemlos möglich. Nur – es macht kaum jemand.
geschäftsstraße Ein Hitler, der in der nach einem angesehenen Juden benannten Rua Isaac Tabacow von São Paulo wohnt, sagt: »Meine Frau nennt mich schon seit drei Jahrzehnten so, auch sie ist gegen eine Änderung.« Und in der Israel-Straße betont ein anderer Hitler: »Dieser Name hat mir nie geschadet.« Also lässt es anderswo in dem Riesenland auch ein bekannter Kieferchirurg dabei, ist eine ganze Geschäftsstraße nach dem Abgeordneten Hitler Sansao benannt, ist der Naziführer Teil der Adressen vieler Bankfilialen und eines Krankenhauses.
Während katholische Bischöfe des Landes dafür plädieren, nazistische Vornamen zu verbieten, mahnt die jüdische Gemeinde zur Vorsicht. Rabbiner Nilton Bonder in Rio de Janeiro sagt: »Hitler wird als berühmte Persönlichkeit angesehen, und Brasilien ist gegenüber Juden voller Vorurteile.« Der Gebrauch von Nazi-Vornamen werde verurteilt, heißt es auch in der jüdischen Gemeinde São Paulo, doch man ziehe es vor, keinen Lärm zu machen. »Öffentliches Aufsehen könnte nach unserer Erfahrung die Probleme mit dem Antisemitismus nur noch vergrößern.«
Schließlich hatte kein Geringerer als Ex-Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva bereits während seiner Zeit als Gewerkschaftsführer zur Diktaturzeit in den 70er-Jahren erklärt – und nie zurückgenommen –: »Hitler irrte zwar, aber er hatte etwas, das ich an einem Mann bewundere: dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen. Was ich bewundere, ist die Veranlagung, Bereitschaft, die Kraft, die Hingabe.«
Kleiderständer Nicht weniger schockierend ist Brasiliens Umgang mit Nazisymbolen. Man geht in große Kaufhäuser, Modegeschäfte und sieht erstaunlich häufig Kleiderständer in Hakenkreuzform, die unverhohlen von jedermann – auch in Katalogen sowie in der Internetwerbung – als Suasticas, Hakenkreuze, bezeichnet werden. In Schwarz kosten sie derzeit umgerechnet rund 50 Euro, verchromt etwas mehr. YouTube-Werbefilme zeigen, wie man das Hakenkreuz, an dem dann die Kleider baumeln, richtig aufsetzt.
Auschwitz-Überlebenden, die sich in Brasilien niederließen, versetzt der Blick auf die Suasticas der Einkaufsstraßen jedesmal einen Schock. Das Justizministerium in Brasilia zeigte sich auf Anfrage überrascht: Das mit den landesweit verwendeten Hakenkreuz-Kleiderständern, so ein Sprecher, sei schlichtweg noch niemandem aufgefallen.
Ebenfalls mehr als befremdlich sind die in den 30er- und 40er-Jahren in Brasilien massenhaft verlegten Hakenkreuzfliesen und -kacheln. Auch in der Nähe des deutschen Generalkonsulats in Rio de Janeiro stößt man in zahlreichen Gebäuden auf Hakenkreuzornamente, sind ganze Balkone, Korridore und Küchen damit bestückt. Laut Gesetz ist das alles strafbar.
swimmingpool 2009 veranstaltet der Sportartikelhersteller Adidas im Künstlerviertel Gavea eine Party mit zahlreichen geladenen Gästen, mietet dafür eine alte Villa an. Mehr als ein Dutzend Brasilianer, darunter auch Prominente, verlässt unter Protest die Party, als ihnen auffällt, dass der Rand des großen Swimmingpools komplett mit Hakenkreuzkacheln ausgelegt ist und im Inneren des Hauses das Ölgemälde eines Nazi-Offiziers mit gut sichtbarem Hakenkreuz an der Mütze hängt.
Einer der Empörten ist der Schriftsteller João Paulo Cuenca, Gast der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst. Er kritisierte ebenso wie einige Vertreter der jüdischen Gemeinde öffentlich die Nazisymbole, erntete dafür aber keineswegs Zustimmung, sondern wurde beschimpft und lächerlich gemacht. Adidas erklärte, den Organisatoren der Party seien die Hakenkreuze nicht aufgefallen. Die Villa, in der die Party stattfand, ist bekannt in Rio. In dem Haus wurden sogar Filme gedreht.
Schmerzhaft für Brasiliens Juden ist auch, dass in der Nähe der Villa ein Platz nach Filinto Müller benannt ist. Der Gestapo-Schüler, Chef und Oberfolterer der politischen Polizei von Diktator Getulio Vargas sorgte 1936 für die Auslieferung von Olga Benario an Hitlerdeutschland. Die jüdische Kommunistin wurde 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg vergast.
Der Name des Platzes in Rio ist kein Ausrutscher. Per Internetsuche findet man schnell heraus, dass es in ganz Brasilien viele solcher Straßen und Plätze gibt. Sogar Schulen und ein ganzer Flügel des Nationalkongresses tragen den Namen Filinto Müller. Dem notorischen Judenhasser Getulio Vargas wurde in Rio sogar ein Denkmal errichtet.
Judas-Verbrennen »Jude« existiert in Brasilien als Schimpfwort – und in Wörterbüchern steht unter »Judeu« allen Ernstes »Individuo mau«, schlechter Mensch. Da mag nicht verwundern, dass auch der aus Spanien und Portugal stammende antisemitische Brauch des Judas-Verbrennens weiter populär ist. Jedes Jahr zu Ostern wird eine große Judas-Puppe durch manchen Ort geschleift, an einem Galgen aufgehängt und angezündet oder mit Feuerwerkskörpern gesprengt.
Ein Bischof verbot den Brauch in seiner Diözese, andere Geistliche gehen ganz bewusst zu dem karnevalesken Fest und distanzieren sich vor den Gläubigen explizit von dem antijüdischen Hintergrund. In Ouro Preto, der berühmten Weltkulturerbe-Barockstadt, stellt Padre Danival Milagres Coelho stets klar: »Die katholische Kirche verurteilt Judas nicht!«
Rabbiner erinnern daran, dass zur Kolonialzeit sowohl der christliche Antijudaismus als auch der rassistische Antisemitismus mit all seinen Stereotypen tief eingepflanzt wurden. Auch in Deutschland gehörte das sogenannte Judasbrennen zu den Volksbräuchen, stand »Judas« für »die Juden«. Schwer zu übersehen, dass brasilianische Judas-Puppen nicht selten klischeehaft eine große Hakennase tragen.