Wo liegt Nikolsburg? Und was mag ein Buch mit dem Titel Zwischen Prag und Nikolsburg erzählen? Der Untertitel erklärt nüchtern, dass es um Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern geht.
Juden lebten über Jahrhunderte zwischen Deutsch und Tschechisch sprechenden Bewohnern der »böhmischen Länder« im Herzen Europas. Viele beherrschten beide Sprachen, changierten privat wie beruflich zwischen diesen Lagern, die sich ab dem 19. Jahrhundert wegen des zunehmenden Nationalismus immer feindseliger gegenüberstanden.
Viele Juden wurden zu Vermittlern, innerhalb wie außerhalb der jüdischen Gemeinde. Diese spaltete sich zunehmend in ein deutsch-kulturelles und ein tschechisch-kultuerelles Lager, in religiöse Traditionalisten und Reformer sowie Zionisten unterschiedlicher Couleur.
Das Herz dieses Schlamassels, meint man gemeinhin, schlug in Prag. Doch das im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht gerade erschienene Buch bricht mit diesem Klischee. Jüdisches Leben im heutigen Tschechien war und ist mehr als Golem und Kafka.
Forschung Ein neunköpfiges internationales Team von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Tschechien, Ungarn, den USA und Deutschland will »eine umfassende Geschichte der Juden der böhmischen Länder« erzählen, heißt es im Vorwort. Dieses Versprechen wird nach sechsjähriger Arbeit eingelöst.
Schon auf dem Cover bricht das Buch mit gängigen Sichtweisen: Es zeigt den Ausschnitt einer Postkarte aus der Zeit um 1900 mit einer Ansicht von Teplice/Teplitz in Nordböhmen. Das Kurstädtchen hatte bis zur Schoa ein reiches jüdisches Leben, die dortige Synagoge war bis zu ihrer Zerstörung eine der größten in Böhmen.
Wichtiger als Gebäude oder Zahlen und Fakten (an denen es im Buch freilich nicht mangelt) sind den Autoren Menschen und ihre Geschichten, die die große Geschichte greifbar machen.
Wichtiger als Gebäude oder Zahlen und Fakten (an denen es im Buch freilich nicht mangelt) sind den Autoren Menschen und ihre Geschichten, die die große Geschichte greifbar machen.
Ein solches Schicksal vermittelt sich über ein auf den ersten Blick harmloses Foto von 1947: Die aus der heutigen Ukraine stammende Gertrude Adler hält ihren kleinen Sohn im Arm. Man sieht die Nummer, die ihr in Auschwitz eintätowiert wurde.
Das Pendant zur weitgehend unbekannten jüdischen Kultur in Nordböhmen sind die jüdisch geprägten Dörfer und Städte in Mähren, wie Brünn mit Unternehmern wie den Tugendhats. Weniger bekannt ist Trebíc, wo eine jüdische Siedlung UNESCO-Weltkulturerbe ist. Das im Buchtitel verewigte Nikolsburg – tschechisch Míkulov – liegt in dieser Gegend.
Slánský-Prozesse Jüdisches Leben in Böhmen, Mähren und Mährisch Schlesien wies viele Besonderheiten auf. So erkannte die 1918 gegründete Erste Tschechoslowakische Republik jüdisch als Nationalität an, neben der deutschen und der tschechischen. Dieses Bekenntnis war nicht an die Religion gebunden, man konnte also auch in einem kulturellen Sinne jüdisch leben. Das Buch zeichnet jedoch kein verklärtes Bild des tschechoslowakischen Wegs, wirft etwa auch ein Licht auf die antisemitisch geprägten Slánský-Prozesse nach 1945.
Im Spannungsfeld zwischen deutscher und tschechischer Kultur entwickelte sich in den böhmischen Ländern eine sehr spezifische Ausformung des Jüdischen. Max Brods viel zitierter »Indifferentismus« war der Versuch, ein Wort für das Konzept zu finden, sich keiner Nationalität, keiner Sprache, keiner Kultur eindeutig zuzuordnen und trotzdem mit beiden Beinen mitten im Leben zu stehen. Das aktuelle Buch erzählt über diese Vielfalt, diesen Reichtum, der von den Nazis zerstört wurde.
Es ist diesem Buch zu wünschen, dass es viele Leser findet, wenn auch die grafische Gestaltung an einigen Stellen verbesserungsbedürftig ist. Auf einem Stadtplan von Prag etwa kann man gerade noch die Moldau erkennen. Solche Kleinigkeiten lassen sich heilen. Das Buch wird Ende dieses Jahres auf Englisch erscheinen, und im Frühjahr nächsten Jahres auch auf Tschechisch und Hebräisch.
Katerina Capková und Hillel J. Kieval (Hrsg.): »Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern«. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020, 428 S., 70 €