Er hat seine Schwester auf der anderen Seite des elektrischen Stacheldrahtzauns in Auschwitz-Birkenau kaum noch erkannt. »Sie hatte keine Haare mehr, trug diesen Pyjama und war schon nach den ersten Tagen abgemagert«, erzählt der von der griechischen Insel Rhodos stammende Holocaust-Überlebende Sami Modiano - und schaut sich selbst dabei zu. Der 94-Jährige sitzt bewegungslos und aufmerksam im Freiluftkino der Inselhauptstadt und sieht den Film, in dem er von der Deportation der Jüdinnen und Juden von Rhodos nach Auschwitz am 23. Juli 1944 erzählt.
Er habe seiner Schwester über den Zaun hinweg zuwinken können und mit Bewegungen gezeigt, dass er sie umarme. Sogar ein Stück Brot habe er ihr zugeworfen. »Dann aber warf sie etwas zurück. Zwei Stücke Brot. Meines und ihr eigenes. Denn sie hatte nach dem Tod unserer Mutter einige Jahre zuvor geschworen, auf mich aufzupassen.« Modianos Schwester und Vater starben in Auschwitz. »Sie haben immerhin noch eine Zeit lang gelebt. Die Juden, die nach der Deportation in Birkenau am 16. August 1944 in die Gaskammern geschickt wurden, waren innerhalb von drei Stunden tot.«
Modiano ist einer der 270 Menschen aus Rhodos, die überlebt haben.
Eine russische Ärztin habe ihn nach der Befreiung des NS-Konzentrationslagers durch die Rote Armee im Januar 1945 in eine Decke eingewickelt und immer wieder festgehalten. »Sie hat geweint, als sie bemerkte, dass ich überlebe.«
Sami Modiano ist nach dem Ende der Film-Vorstellung umringt von Nachfahren von Jüdinnen und Juden von Rhodos, die auf der ganzen Erde verstreut leben und in dieser Woche zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Deportation auf die Insel gekommen sind.
Am 23. Juli 1944 endete die 2.200-jährige Geschichte der jüdischen Gemeinde auf Rhodos. Obwohl es in der Altstadt von Rhodos eine große, aufwendig restaurierte Synagoge gibt, hat sich nie wieder eine Gemeinde hier gebildet, sagt Claudia Restis vom Synagogenverein.
Dieser hat die Gedenkkonferenz organisiert, in der es um die Geschichte, die Sprache - das Ladino - und Bräuche der Jüdinnen und Juden von Rhodos geht.
Isaac Habib ist aus Südafrika angereist. Seine Mutter, Lucia Capelluto, hat Auschwitz auch überlebt. Da vor dem Zweiten Weltkrieg schon etliche Menschen von Rhodos der Armut im östlichen Mittelmeerraum entflohen waren und in Afrika, vor allem im heutigen Kongo und Zimbabwe Zuflucht gesucht hatten, hatte Lucia Capelluto dort Verwandte. Sie zog in den Kongo und heiratete einen Mann aus Rhodos. Isaac Habib kam dort zur Welt. Er führt anlässlich der Konferenz durch das ehemalige jüdische Viertel der Altstadt von Rhodos Stadt, in dem seit dem 15. Jahrhundert Juden lebten.
Die Verbrechen des Holocaust hatten sich bis 1944 noch nicht auf der Insel herumgesprochen
»Die NS-Besatzer haben sich in der Inselhauptstadt zunächst ganz anders verhalten als in allen anderen Orten, in denen Jüdinnen und Juden verfolgt wurden«, sagt Habib. »Hier gab es kein Ghetto und keinen Zwang, den gelben Stern zu tragen.« Hinzu kam, dass sich die Verbrechen des Holocaust bis 1944 noch nicht in ihrer ganzen Dimension auf der Insel herumgesprochen hatten. Daher hätten die Männer keinen Verdacht geschöpft, als sie am 22. Juli 1944 aufgefordert wurden, sich in das deutsche Hauptquartier zu begeben, um für Arbeiten eingeteilt zu werden. Frauen und Kinder mussten am nächsten Tag folgen.
Am 23. Juli 1944, einem Sonntag, begann die Deportation der etwa 2.000 jüdischen Männer, Frauen und Kinder. Im Hafen seien sie auf Kohleschiffe verfrachtet worden. Sieben Tage brauchten die Schiffe bis Athen, weil sie noch auf die Juden der nahegelegenen Insel Kos warteten. Der Transport bis zum Konzentrationslager Auschwitz dauerte drei Wochen.
Sami Modiano suchte nach dem Krieg einige Jahre lang eine neue Heimat. Zunächst zog auch er in den Kongo. Später kehrte er nach Europa zurück und lebt seither in Rom. Da Rhodos zur Zeit seiner Geburt 1930 zu Italien gehörte, hat er die italienische Staatsbürgerschaft. Am Jahrestag der Deportation kehrt er oft nach Rhodos zurück. Er hat es sich zu seiner Aufgabe gemacht, über die Verbrechen zu reden. »Niemand soll jemals wieder sehen müssen, was meine Augen gesehen haben«, ist er überzeugt.