Ukraine/Israel

Von einem Krieg in den nächsten

Der 7. Oktober begann für Familie Piletsky aus Mariupol mit einer Sirene. Aber selbst im kleinen Schutzraum in ihrer neuen Wohnung in Beer Sheva zog die vor dem Krieg in der Ukraine nach Israel geflohene Familie keine Parallelen zwischen dem russischen Angriff und dem Hamas-Anschlag. »Außer, dass hinter beiden die gleichen Gesichter, oder besser gesagt, Maulkörbe, stehen«, spielt Marina Piletsky auf Russland an.

Die Familie erhielt Anfang 2022 ihr Visum für einen dauerhaften Aufenthalt in Israel. Ihre Ausreise war für den 15. März geplant. Doch es kam anders: Am 24. Februar um 4.30 Uhr wurden Marina und Ruslan von Explosionen geweckt, ihre Stadt wurde bombardiert. Die Piletskys verbrachten fast drei Wochen im Keller. Sie schliefen auf dem Zementboden, bis jemand einen Teppich brachte. Die Kinder wurden viel zu schnell erwachsen. »Oma, ich habe Hunger, aber ich muss lächeln«, sagte ein Sechsjähriger einmal zu Marina. Es gab kaum Wasser, denn der heftigste Beschuss begann immer, wenn die Menschen Wasser holen gingen.

Die Leiche ihres Sohnes wurde erst gefunden, als das Ehepaar in Israel war.

Auch das Krankenhaus wurde beschossen, wo die Leichen von Zivilisten am Bordstein neben der Leichenhalle gestapelt lagen. Es gab niemanden, der sie beerdigen konnte.

Am 13. März kehrte der Sohn der Piletskys nicht vom Wasserholen zurück. Einige Tage lang hielt die Familie irgendwie durch. Doch dann begannen die Gebäude aufgrund des anhaltenden Beschusses zusammenzufallen. Es brannte. Alle zehn bis 20 Minuten wurden sie aus der Luft bombardiert, und es war klar, dass der Keller bald zu einem Massengrab werden würde.

Minen Am 21. März entschlossen sie sich, die Stadt zu verlassen, wo nicht explodierte Minen auf der Straße lagen und sie über gebrochene Stromkabel fahren mussten. Der Gefahr an den russischen Kontrollpunkten zum Trotz versteckten sie eine ukrainische Flagge unter dem Sitz. Die Windschutzscheibe und Seitenfenster waren zersplittert, etwas schwelte, und auf dem Weg nach Saporischschja mussten sie durch Minenfelder fahren, aber sie schafften es. Als sie den ersten ukrainischen Kontrollpunkt sahen, weinten sie wie Kinder.

Die Leiche ihres Sohnes Wolodja wurde erst gefunden, als das Ehepaar bereits in Israel war. Diese Wunde wird niemals heilen, auch wenn der Schmerz mit der Zeit nachlässt.

Israelis kamen Marina und Ruslan sofort zu Hilfe. Sie brachten ihnen alles, was sie zum Leben brauchten – Geschirr, Kühlschrank, Waschmaschine, ganz zu schweigen von finanzieller Unterstützung. Mit der Zeit wurden die Piletskys sesshaft, kauften sich ein Auto, von dem sie in der Ukraine nicht einmal träumen konnten, und beide fanden Arbeit.

»Wir haben uns in Israel verliebt«, sagt Marina. »Eines Tages saß ich mit meinem Mann auf dem Balkon, und er sagte: Gott, was für ein Segen ist es, dass wir in diesem schönen Land sind.«

Heimatfront Dass sie sich plötzlich im nächsten Krieg wiederfanden, sei kein Schock für sie gewesen. Sie hätten beide gewusst, wohin es gehe, und dass sich Israel ständig im Krieg befinde. »Wir haben schnell wieder Mut gefasst, uns gesammelt und begonnen, das Land zu verteidigen«, sagt Marina.

Außerdem fühlten sich die Menschen an der Heimatfront nicht im Stich gelassen. In der Ukraine habe man sich nirgendwo verstecken können, und in Mariupol gab es keinerlei Warnung durch Sirenen. »Alles, was wir hörten, waren Explosionen und das Dröhnen der feindlichen Jets. Hier in Israel heult allenfalls eine Sirene, wenn man einkaufen geht. Das sorgt für Anspannung, aber mehr auch nicht.«

Für Familie Piletsky ist dies ein anderer Krieg als in der Ukraine, obwohl Beer Sheva, wo sie ihr neues Zuhause gefunden haben, nur 35 Kilometer vom Gazastreifen entfernt ist. Sie haben sich die Stadt bewusst ausgesucht, nachdem sie ganz Israel bereist hatten, um sich für einen Ort zum Leben zu entscheiden. In der Hauptstadt der Negev-Wüste gibt es viele Menschen ukrainischer Herkunft. Auch stammt der Rabbiner von Mariupol, Menachem Mendel Cohen, von hier.

»Er hat vielen Menschen geholfen, aus dem besetzten Mariupol zu fliehen, und so viele zu Beginn der russischen Invasion gerettet«, sagt Marina. Und nun sorge er sich um jedes Gemeindemitglied. Erst kürzlich habe er ein Zoom-Meeting organisiert, um herauszufinden, wie wir – die Flüchtlinge aus Mariupol – mit diesem zweiten Krieg innerhalb von zwei Jahren zurechtkommen.«

In den ersten Tagen des neuen Krieges hätten in Beer Sheva natürlich die Sirenen geheult und es sei auch zu Lebensmittelknappheit gekommen. Aber selbst da, so Marina, sei der Ansturm geringer gewesen als vor den Feiertagen, wenn die Israelis ganze Einkaufswagen voller Lebensmittel kaufen.

Für Marinas Tochter, deren Mann und Sohn war es schwieriger. Auch sie haben sich ein Auto gekauft und wollten eigentlich in den Urlaub nach Zypern fahren. Doch dann kam der Krieg.

Sicherheit In den ersten Tagen stand die junge Mutter am Rande eines Nervenzusammenbruchs – sie weinte und konnte nicht schlafen. Der Enkel hatte Angst vor den Sirenen und dem zu erwartenden Granatenbeschuss. Zwei Wochen später jedoch war die Angst fast verschwunden, auch dank des Austauschs mit Nachbarn und anderen Eltern. »Es gibt keine absolut sicheren Orte auf diesem Planeten«, sagt Marina.

Was die Piletskys besonders beeindruckt, ist, wie sich die Menschen in Israel gegenseitig unterstützen: »Nachbarn bringen meiner Tochter Kuchen. Sie versuchen immer, sie zu versorgen.« Im Gegenzug helfen Marina und Ruslan einem Kollegen: Sie bringen dem alleinerziehenden Vater, der aus Äthiopien stammt, Lebensmittel.

Ruslan hat den Ulpan absolviert, sein Studium bei einem Privatlehrer fortgesetzt und macht große Fortschritte in Hebräisch. Er wurde gerade befördert und ist seit Kurzem Vorarbeiter in einer Kunststoffrecyclinganlage. Der Chef will ihm sogar die Verantwortung für drei Produktionsstätten übertragen. Die Belegschaft ist gemischt: Sabras, Neueinwanderer, Beduinen.

In den ersten Tagen des Krieges seien die meisten Muslime nicht zur Arbeit gekommen, weil sie die schrägen Blicke ihrer jüdischen Kollegen fürchteten, sagt er. Zur gleichen Zeit wurde der Bruder eines beduinischen Kollegen getötet, als er Kinder vor den Terroristen aus dem Gazastreifen retten wollte. Nun sei alles in Ordnung, die Menschen wollen schließlich ihre Familien ernähren.

»Spannungen gab es schon immer, aber heute waren wir auf dem Markt, und die meisten arabischen Verkäufer sind zurückgekehrt«, erzählt Marina. »Viele Muslime wollen keinen Krieg, sie verfluchen die Hamas.«

Marina arbeitet in der Pflege älterer Menschen. Für sie seien ihre Patienten wie eine Familie. Wie ihre eigenen Großeltern. Viele von denen hätten Enkelkinder, die gerade aus dem Ausland zurückgekehrt sind, um in die Armee zu gehen.

Die Neuankömmlinge aus der Ukraine sind voller Dankbarkeit für die Hilfsbereitschaft, mit der sie empfangen wurden. Doch Marina sieht auch nicht alles rosig: Zum Beispiel schäme sie sich für den Müll auf den Straßen und das laute Gerede in öffentlichen Verkehrsmitteln. Doch die positiven Aspekte würden überwiegen, vor allem die Offenheit ihrer Mitbürger, deren Entgegenkommen und das Gefühl einer geeinten Familie beeindrucken sie.

Und nein, Sehnsucht nach ihrer früheren Heimat verspüre sie nicht. Sie vermisse nur den Geruch des Asowschen Meeres. »Mariupol ist nicht mehr meine Stadt«, sagt sie und seufzt. »Da lagen die Leichen meiner Landsleute, ich kann nicht mehr durch diese Straßen gehen.«

Kürzlich hat das Paar Freunde in Deutschland besucht. Am Ende der Reise, als sie das Flugzeug bestiegen, sagte Ruslan: »Gott sei Dank, wir fliegen nach Hause.« Das sei die reine Wahrheit, sagt Marina. »Israel ist unsere Heimat. Wir bleiben auf jeden Fall hier – es ist unser Land.«

Der Autor ist Chefredakteur der Kiewer jüdischen Zeitung »Hadashot«.

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