Andrea Kleine hat eine Mission: Die Schicksale von Menschen zu erzählen, die sonst vermutlich nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt hätten. »Ich möchte, dass die Erfahrungen von Schoa-Überlebenden sowie von Juden, die in der kommunistischen Diktatur gelebt haben, für nachfolgende Generationen wachgehalten werden«, sagt die 52-Jährige.
Sie wurde in Bratislava in der Slowakei geboren. Ihre Mutter ist Tschechin, der Vater slowakischer Jude. Derzeit lebt und arbeitet sie als freiberufliche Relocaterin in Düsseldorf. Seit drei Jahren engagiert sie sich in ihrer Freizeit für die gemeinnützige Stiftung »Post Bellum« in dem Projekt »Memory of Nations« (»Príbehy 20. století«). Dessen Grundidee ist es, »Zeitzeugen zu verschiedenen Ereignissen der tschechischen und slowakischen Geschichte zu Wort kommen zu lassen«, so Kleine.
Rundfunk »Post Bellum« wurde 2001 von Journalisten des Tschechischen Rundfunks »Ceský rozhlas« in Prag mit dem Ziel ins Leben gerufen, den gegenwärtigen und künftigen Umgang mit Geschichte in Tschechien und der Slowakei kritisch zu beleuchten. Seither werden die von Dokumentaristen wie Andrea Kleine geführten Zeitzeugengespräche in Auszügen als Hörfunkserie jeden Sonntagabend im Radio, aber auch im Fernsehen, ausgestrahlt.
Die Beiträge werden in der Datenbank »Pamet’ národa« (Gedächtnis der Völker) auf der Website www.memoryofnations.eu kostenlos zum Nachlesen und Nachhören zur Verfügung gestellt.
Als Oral-History-Radioprojekt gestartet, hat sich die »Memory of Nations« mit inzwischen bereits rund 6000 publizierten und 11.000 aufgenommenen Interviews zu einer der größten europäischen Datenbanken von Zeitzeugen des zurückliegenden Jahrhunderts entwickelt. Zu finden sind dort sowohl die Erinnerungen von Verfolgten und Widerstandskämpfern als auch die Berichte von ehemaligen Staatsfunktionären und Grenzsoldaten.
»Ich habe mich in meiner dokumentarischen Arbeit auf jüdische Lebensgeschichten der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie in den Jahren der kommunistischen Diktatur in der Slowakei fokussiert«, sagt Kleine. »Ich kann die Erfahrungen der Menschen gut nachvollziehen, denn ich bin mit den Geschichten über den Zweiten Weltkrieg und das Leben im Kommunismus in Bratislava aufgewachsen.«
Schon als Studentin habe sie begonnen, sich mit ihrer jüdischen Herkunft und der Geschichte der Gemeinde in der Slowakei auseinanderzusetzen. »Erzählungen über die Schoa sowie über Flucht vor dem kommunistischen Staatsapparat waren in meiner Familie präsent«, erzählt sie.
So sei eine ihrer Tanten 1967 aus der Slowakei nach Israel ausgereist, ihre Großeltern väterlicherseits konnten in die Schweiz emigrieren. »Im Kommunismus waren das eigene Jüdischsein sowie die speziellen Erfahrungen von Juden während des Zweiten Weltkriegs kein Thema.«
Heute gebe es in der slowakischen Mehrheitsgesellschaft Interesse, mehr über die Schoa sowie das Wirken der jüdischen Gemeinde im Land nach 1945 zu erfahren, erzählt Kleine. »Es gibt inzwischen schon einige historische Untersuchungen, aber die kommen nicht in der Breite der Bevölkerung an«, sagt sie.
Interviews Die Zeitzeugeninterviews, die in der Slowakei auch in Zeitungen publiziert werden, erreichen die Menschen ihrer Einschätzung nach direkt. »In den Lebensgeschichten geht es nicht nur um trockene historische Daten, sondern um die persönlichen und subjektiven Erfahrungen von Einzelpersonen.«
Ihre bisherigen Gesprächspartner hat Kleine über die tschechisch-slowakische Community in Düsseldorf und über persönliche Kontakte in der Slowakei ausfindig gemacht.
»Aktuell interviewe ich mehr Menschen in Deutschland, da die Reise in die Slowakei coronabedingt schwierig ist«, sagt Kleine. Gerade arbeitet sie an einem Zeitzeugenporträt von Imrich Donath, Honorarkonsul der Slowakei für Hessen, der sich in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt engagiert.
Kontakt zu Andrea Kleine: akleine03@gmail.com
Tschechien–Slowakei