Am Anfang stand eine Reise. Als der Journalist Julián Gorodischer 40 wurde, machte er sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln: Er flog nach Polen. Dort hatten seine Vorfahren bis zum Holocaust gelebt.
Gorodischer interessierte sich vor allem für eine Person: seine Großtante Paie. Sie wurde in der Schoa ermordet. »In meiner Familie war sie immer sehr präsent. Aber meine Eltern hatten wenig Information über sie. Und es fiel ihnen schwer, über den Holocaust zu sprechen.«
In Polen angekommen, stellte Julián Gorodischer fest, dass es das Dorf bei Krakau, in dem Paie und ihre Zwillingsschwester Tzipe mit ihren Eltern gelebt hatten, nicht mehr gab. Doch er fuhr nach Auschwitz, wo Paie ermordet worden war. Zurück in Buenos Aires, forschte er in Archiven über die jüdische Geschichte in Polen und die Schoa und sprach mit Überlebenden.
Und obwohl er sich von Paies letzten Lebensjahren kein vollständiges Bild machen konnte, widmete er der Großtante eine Reportage in Comic-Form.
Die Schoa als Gegenstand eines Comics – das hatte es in Argentinien, einem Land mit großer Comic-Tradition, noch nie gegeben. Und so war die erste Auflage von Gorodischers Camino a Auschwitz y otras historias de resistencia (»Weg nach Auschwitz und andere Geschichten des Widerstands«), gezeichnet von Marcos Vergara, bereits innerhalb weniger Wochen vergriffen.
stereotypen Gorodischer versucht in dem Buch eine Annäherung an seine Großtante, ohne dabei in Opfer-Stereotypen zu verfallen. Als junge Frau wurde Paie im Krakauer Ghetto von ihrer Zwillingsschwester Tzipe getrennt. Tzipe, Gorodischers Großmutter, gelang die Flucht nach Argentinien. Paie lebte noch eine Zeit lang im Ghetto und wurde dann nach Auschwitz deportiert. Dort wurde sie im November 1944 im Alter von 21 Jahren in der Gaskammer ermordet.
Gorodischers Graphic Novel basiert auf einer wahren Geschichte, aber der Autor nimmt sich die Freiheit, fiktive Elemente zu verwenden und Paies lückenhafte Biografie mit Material aus Literatur und Film zu ergänzen. Was Wahrheit ist und was Fiktion, lässt der Autor dabei im Unklaren.
Gorodischer beschreibt seine Großtante als eine Person mit Licht und Schatten: Einerseits ist sie selbstlose Trostspenderin für KZ-Mithäftlinge, andererseits Denunziantin und Geliebte von Lagerkommandanten. »Dass es in Auschwitz Prostitution gab, sexuelle Kontakte zwischen Kommandanten und weiblichen Häftlingen, ist eine Tatsache«, sagt er. »Ich erzähle das nicht, um die Opfer zu verurteilen oder zu beschmutzen, sondern um ihre Überlebensstrategien zu zeigen. Mein Buch handelt vom Überleben.«
Anlehnung Gorodischer lässt Paie auf Primo Levi treffen, den Verfasser des autobiografischen Auschwitz-Berichts Ist das ein Mensch?. Am Anfang redet Levi Paie ins Gewissen. Später, kurz vor ihrem Tod, steht er der zum Skelett abgemagerten Gefangenen bei. Die beiden nehmen Abschied – in Anlehnung an eine Begebenheit, die Levi in seinem Bericht erzählt. Gorodischer lässt Paie und Levi Seite an Seite in den Nachthimmel über dem Vernichtungslager blicken – eines der Gestirne hat die Form eines Davidsterns.
In Camino a Auschwitz sind die Opfer in erster Linie Menschen – in all ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität. »Ich wollte sie nicht als Heilige darstellen«, betont Gorodischer. Sein Buch besteht aus insgesamt drei Comic-Reportagen. Neben Paie ist da Gorodischers Großonkel Berl, Held des Warschauer Ghettoaufstands und jüdischer Partisan. Die dritte Geschichte ist Luba gewidmet, einer weiteren Großtante des Autors, die die Schoa überlebte und 1960 an der Entführung Adolf Eichmanns nach Israel teilnahm. Luba Volk arbeitete für die israelische Fluggesellschaft EL AL und war beauftragt worden, den Flug von Buenos Aires nach Tel Aviv vorzubereiten. Wie sie später in Interviews sagte, wusste sie damals nicht, dass die Maschine den Nazi-Verbrecher Eichmann, der unter dem Namen Ricardo Klement in Argentinien lebte, nach Israel bringen sollte.
In seiner Graphic Novel schmückt Gorodischer Lubas Rolle aus, stellt sie als Agentin dar, die bewusst an der Operation teilnahm und dabei war, als das Mossad-Kommando Eichmann zwölf Tage lang in einer Wohnung in Buenos Aires festhielt. Sowohl Luba als auch der Partisan Berl sind in Gorodischers Buch Helden mit Brüchen. Berl hat Liebesbeziehungen zu anderen Partisanen, und Luba fühlt sich zeitweise zu Eichmann hingezogen.
Julián Gorodischer sieht sich als Teil einer literarischen Bewegung, der auch der israelische Schriftsteller Etgar Keret angehört und die sich auf subjektivere Weise der Schoa nähern will. »Was so aussieht, als würden wir den Opfern weniger Respekt erweisen, soll das Geschehene einfach greifbarer, nachvollziehbarer machen«, erklärt der Journalist. »Wenn Erinnerung nur in engen Grenzen des offiziell Erlaubten stattfindet, besteht die Gefahr, dass die Tragödie nicht nachempfunden werden kann.«
Gegenwart Gorodischer sagt, er habe sich die Geschichten seiner Vorfahren aneignen müssen, um »etwas zu spüren«. Er beschreibt seine Helden aus der Gegenwartsperspektive, das heißt, sie verhalten sich wie Menschen von heute und haben Probleme von heute, wie etwa Panikattacken.
Der Autor ist auch selbst präsent in Camino a Auschwitz. Ähnlich wie Art Spiegelman in seinem Holocaust-Comic Maus nimmt er die Rolle des Chronisten ein, der die Überlebenden befragt. Aber Gorodischers Alter Ego ist nicht nur Fragensteller und Erzähler, sondern er erlebt auch und hat verstörende Träume. »Der Comic handelt vom Holocaust in der Gedankenwelt eines jüdischen Argentiniers heute«, sagt der Autor.
Beim Besuch in Auschwitz weint sein Alter Ego. Aber »ich weine nicht wegen Paie«, sagt Gorodischer, »ich weine, weil ich mich dazu gezwungen habe, meinen 40. Geburtstag in dieser Hölle zu verbringen«.
Das Schuldgefühl, der Schmerz, die Ohnmacht der Überlebenden sind ein zentrales Thema in Gorodischers Graphic Novel. »Es geht um die Verarbeitung einer tragischen Vergangenheit in der Familie, darum, wie dieses tragische Kapitel von Generation zu Generation weitergegeben wurde«, sagt der Autor. Aber es gehe auch darum, »wie manche die Vergangenheit zum Vorwand nehmen, um ihre heutigen Frustrationen zu rechtfertigen«.
Tabus Für manche Leser verletzt der Comic Tabus, beim argentinischen Anti-Diskriminierungs-Institut INADI ging eine Beschwerde ein. Eine Banalisierung der Schoa konnte das INADI aber nicht erkennen und wies die Beschwerde ab.
Gorodischer, der selbst schwul ist, weiß, dass er gerade mit dem Thema Homosexualität in manchen Kreisen der jüdischen Gemeinschaft Argentiniens aneckt. Er habe mit seinem Comic auch ein Zeichen gegen traditionelle Vorurteile und den »Machismo in der jüdischen Kultur« setzen wollen, meint er. Großonkel Berl nicht nur als heroischen Widerstandskämpfer und mutigen Partisanen zu porträtieren, sondern zudem als liebesbedürftigen schwulen Mann, war möglicherweise auch ein Akt der Rebellion gegen seine eigene Familie.