Zu lachen hat der frühere Komödiant Wolodymyr Selenskyj nach seinem ersten Jahr im Amt als Präsident der Ukraine kaum noch etwas. Eine Krise jagt die nächste. Der mit 42 Jahren jüngste Präsident der Ex-Sowjetrepublik errang bei der Wahl vor genau einem Jahr einen fulminanten Sieg gegen den als korrupt verschrienen Petro Poroschenko.
73 Prozent bei der Stichwahl, das gab es noch nie in dem in die EU und in die NATO strebenden Land. Nach Jahren des Krieges gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine sollte vieles besser werden. Aber die Bilanz ist durchwachsen.
rolle Ein stürmisches erstes Jahr liegt hinter dem Ex-Schauspieler Selenskyj, der durch eine Rolle als Präsident im Fernsehen bekannt wurde. Die Popularitätswerte von damals sind verflogen. Aber erst am Freitag zeigte sich Selenskyj in einer Fernsehshow zufrieden, dass er immer noch über dem Wert seines ersten Wahlganges liege – so bei »55/56 Prozent«. Aber das sei ihm ohnehin nicht so wichtig.
Selenskyj machte deutlich, dass er nach einem Jahr im Amt weiter entschlossen sei, die vielen Probleme zu lösen.
Vielmehr machte er deutlich, dass er nach einem Jahr im Amt weiter entschlossen sei, die vielen Probleme zu lösen. »Unsere Aufgabe ist jetzt nicht, für Komfort zu sorgen, sondern fürs Überleben: Brot, Butter, Milch, Getreide«, sagte er mit Blick auf die Corona-Pandemie. Die Krise, bei der mehr als 5000 Menschen in der Ukraine mit dem Coronavirus infiziert und mehr als 100 Infizierte gestorben sind, legt die Schwächen des chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystems offen.
Probleme hatte das krisengeschüttelte Land, das zu den ärmsten in Europa gehört, schon immer genug. Mindestens acht Milliarden US-Dollar erwarte die Ukraine vom Internationalen Währungsfonds, von der Weltbank und der Europäischen Union, sagte Selenskyj. Es gehe wieder einmal darum, den Staatsbankrott abzuwenden. »Ich bin übrigens auch Angela Merkel und Deutschland dankbar. Wir reden. Das heißt, wir werden mehr Geld bekommen«, so der Staatschef in der TV-Show.
geldgeber Seit die Ukraine sich von ihrem Nachbarn Russland wirtschaftlich und politisch abgewendet hat, sieht sie den Westen als wichtigsten Geldgeber in der Pflicht. Vor allem auf Washington setzt Kiew in der Konfrontation mit Moskau. Es geht um militärische Hilfe. »Die USA waren, sind und werden die wichtigsten Verbündeten bei der Verteidigung der Souveränität und des Territoriums der Ukraine sein.« Das sagte Selenskyj einmal mit Blick auf die abtrünnigen Gebiete im Osten und die von Russland einverleibte Schwarzmeer-Halbinsel Krim.
Für Aufregung auch in der Ukraine sorgte dabei im vergangenen Jahr ein Telefonat Selenskyjs mit US-Präsident Donald Trump zu den Hilfen. Das Gespräch, bei dem Trump Selenskyj erpresst haben soll, löste in den USA ein Amtsenthebungsverfahren aus. Selenskyj wehrte sich bei einem Treffen mit Trump in den USA gegen eine Hauptrolle in der Affäre, nahm den Kollegen aber in Schutz. Am Ende blieb alles wie gehabt.
Dabei ist Selenskyj im ersten Amtsjahr auch etwas gelungen, was als besonders schwierig galt: die Rückkehr zu einem Dialog zwischen Kiew und Moskau. Unter seiner Führung ist ein neuer ukrainisch-russischer Gaskrieg abgewendet worden. Die Ukraine bleibt damit für fünf Jahre das wichtigste Transitland für die Energielieferungen aus Russland in die Europäische Union – und erzielt auf diesem Wege Milliardeneinnahmen.
ziel Sein wichtigstes Ziel, den Krieg in der Ostukraine zu beenden, hat der Präsident zwar noch nicht erreicht. Der Widerstand der Nationalisten ist groß, den russischsprachigen Gebieten in den Regionen Luhansk und Donezk Autonomie zu überlassen, wie es Moskau fordert. Doch Selenskyj hatte sein erstes persönliches Treffen mit Kremlchef Wladimir Putin. Und sie haben gemeinsam international gelobte Gefangenenaustausche durchgezogen.
Zum Frieden in dem Konflikt, der nach UN-Schätzungen bisher rund 13.200 Menschenleben gekostet hat, ist es trotzdem noch ein weiter Weg. Selenskyj habe den Ukraine-Konflikt nach dreijährigem Stillstand immerhin vom »toten Punkt« bewegt, sagte der Politologe Wladimir Fessenko der Deutschen Presse-Agentur in Kiew. »Ein Wunder ist nicht geschehen, doch auch keine Katastrophe.«
Trotzdem gibt es Rückschläge – Selenskyj musste wegen innenpolitischer Konflikte bereits eine Regierung entlassen.
Fessenko sieht trotz der vielen Krisen Fortschritte. »Es gab eine tiefgreifende Erneuerung der politischen Eliten: Zu 80 Prozent ist das Parlament erneuert, zu 90 Prozent das Ministerkabinett, zu 100 Prozent die Gebiets-Gouverneure. Und Parlament und Regierung sind erheblich jünger geworden.« Es seien auch wichtige, vom Westen geforderte Reformen angestoßen worden. Der Experte nennt die Freigabe des Handels mit Ackerland, der verboten war.
rückschläge Trotzdem gibt es Rückschläge – Selenskyj musste wegen innenpolitischer Konflikte bereits eine Regierung entlassen. Im Parlament muss sich seine einst starke Partei Diener des Volkes nun Mehrheiten suchen. Die Partei trägt den Namen der Fernsehserie, die Selenskyj als gegen Korruption kämpfenden Präsidentendarsteller berühmt machte.
Aber das, was Selenskyj im ersten Jahr an Problemen angehen musste, hätte sich kein Drehbuchschreiber ausdenken können. Als gäbe es nicht genug zu tun, kämpft das Land nun auch noch gegen die schlimmsten Wald- und Buschbrände um das 1986 havarierte Atomkraftwerk in Tschernobyl in der Nähe der Hauptstadt Kiew.