USA

Vielfalt in L.A.

Schon lange bevor Lisa Edwards (67) ihre Ausbildung zur Rabbinerin Ende der 80er-Jahre in New York und Israel begann, fand sie, es sollte Gemeinden speziell von Leuten und für Leute wie sie geben: homosexuelle Juden. »Ich dachte, dass ich die Idee einer Synagoge für Schwule und Lesben erfunden hätte«, erinnert sie sich.

Doch wenig später erfuhr sie von Beth Chayim Chadashim in Los Angeles, der ersten Einrichtung ihrer Art. BCC, wie die Gemeinde von ihren Mitgliedern genannt wird, wurde 1972 in den Räumen einer schwul-lesbischen Freikirche gegründet. Damals standen homosexuelle Handlungen in vielen Staaten der USA noch unter Strafe. Seit 1994 war Edwards die spirituelle Leiterin der Gemeinde. Ende Juni dieses Jahres ging sie in Rente.

widerspruch Beth Chayim Chadashim sitzt in einem Mittelklasse-Stadtteil von Los Angeles, umgeben von konservativen und orthodoxen Synagogen, mexikanischen und äthiopischen Restaurants. Die kleine Gemeinde hat das Reformjudentum in den Vereinigten Staaten im Laufe der Jahrzehnte stark geprägt.

»Schwule und lesbische Juden hatten immer mit einem Widerspruch zwischen ihrer sexuellen Orientierung und ihrer Religion zu kämpfen«, erklärt Gregg Drinkwater, Doktorand am Institut für Geschichte der Universität Colorado.

So erging es auch Bracha Yael. Sie kam vor 25 Jahren gemeinsam mit ihrer Frau Davi Cheng zum ersten Mal zu einem Gottesdienst zu Beth Chayim Chadashim. Yael, die jüdisch aufwuchs, hatte sich zuvor nicht getraut, in einem religiösen Umfeld offen zu ihrer Homosexualität zu stehen.

lebensbereiche »Viele von uns trennten damals die verschiedenen Lebensbereiche voneinander. Bei der Arbeit waren wir so, in der Synagoge so«, fasst Yael ihr Leben als Drahtseilakt zusammen. Bei Beth Chayim Chadashim sei das zum ersten Mal anders gewesen. »BCC hat es uns erlaubt, alle Teile unseres Lebens zu integrieren.«

Ein Jahr nach diesem ersten Besuch trat Cheng, die in Hongkong aufwuchs und mit 15 in die USA kam, zum Judentum über. Von 2002 bis 2005 war sie die vermutlich erste und einzige chinesisch-amerikanische Gemeindevorsitzende.

Als Grafikdesignerin und Künstlerin entwarf sie gemeinsam mit Freunden Glasfenster für BCC, die an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnern. Seit die Gemeinde 2011 in ihr jetziges Domizil umzog, trennen die Fenster den Gebetsraum vom Eingangs­bereich, der für den Kiddusch genutzt wird.

identität »Mit der Geburt religiöser Organisationen wie BCC entstand eine neue Art der Identität: homosexuelle Juden«, fasst Historiker Drinkwater die Entwicklung zusammen. Identität sei etwas, das nur in Gemeinschaft mit anderen entstehen könne. Es bedarf eines Gesprächspartners, um bestimmte Symbole und Formeln zu entziffern.

Bei BCC und in vielen anderen Queer-Synagogen steht statt einer Israel- oder Amerikafahne die Regenbogenfahne mit Davidstern und eine rosa und lila gestreifte Transgender-Fahne. Weitere Elemente, die BCC als queer erkennbar machen, sind eine Regenbogenmenora, eine geschlechtsneutrale Sprache sowie Anstecknadeln mit Personalpronomen.

Bei den Gottesdiensten fällt auf, dass Kaddisch stets auch für die sechs Millionen Juden gesagt wird, die in der Schoa ermordet wurden, sowie für homosexuelle Juden, die niemanden haben, der für sie Kaddisch betet.

Bei den Gottesdiensten fällt auf, dass Kaddisch stets auch für die sechs Millionen Juden gesagt wird, die in der Schoa ermordet wurden, sowie für homosexuelle Juden, die niemanden haben, der für sie Kaddisch betet.

AIDS-Krise Rabbinerin Edwards trat ihre Stelle auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise an. Um ihren Mitgliedern zu helfen, mit der allgegenwärtigen Angst und Ohnmacht fertig zu werden, begann sie, jeden Freitag die Trauernden im Gottesdienst zu begrüßen und ein Gebet für die Genesung der Kranken zu sprechen. Mittlerweile haben diese Elemente weite Verbreitung in Reformgemeinden in den USA gefunden.

In den ersten zehn Jahren nach der Gründung starben sieben Mitglieder von Beth Chayim Chadashim. Zwischen 1983 und 1994 waren es 40 – zwei Drittel von ihnen erlagen der Immunschwächekrankheit.

Für den Kantor der Gemeinde, Juval Porat, ist es bemerkenswert, wie die AIDS-Krise die Gemeinde zusammengeschweißt hat. Einige Mitglieder gründeten eine Hilfsorganisation, die an AIDS erkrankten Personen gesundes Essen brachte und mit menschlicher Zuwendung gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung kämpfte. »Das finde ich sehr rührend«, sagt Porat.

Seit Juli wird BCC übergangsweise für ein Jahr lang von Rabbinerin Alyson Solomon geleitet, während die Gemeinde einen neuen Langzeitrabbiner sucht. Bevor Solomon nach Los Angeles zog, amtierte sie in einer großen Reformgemeinde in San Diego. Dort gab es sehr viele Kinder – ein großer Unterschied zu ihrem jetzigen Arbeitsplatz.

Seit Kurzem gibt es einen Stammtisch für Trans-Mitglieder.

»BCC ist keine Gemeinschaft, in der sich die Generationen begegnen«, stellt die Rabbinerin fest. Sie hofft, dass mit ihrer Anstellung frischer Wind in die Gemeinde wehen werde.

Neben Rosch Haschana und Jom Kippur gibt es für BCC noch einen weiteren Hohen Feiertag: den Pride Shabbat, der jedes Jahr im Juni mit Regenbogenfarben und der Teilnahme an der Gay Pride Parade in West Hollywood gefeiert wird.

gedenktage Daneben werden auch Gedenktage begangen, die nicht primär jüdischen Ursprungs sind, sondern für die LGBTQ-Community Bedeutung haben, wie zum Beispiel der Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember oder der Gedenktag für ermordete Transgender-Menschen (TDOR) am 20. November.

Seit Kurzem gibt es bei BCC einen Stammtisch für Trans-Mitglieder, die in der Gemeinde eine spirituelle Heimat und Orientierung suchen. Eine von ihnen ist die Transgender-Frau Miriam Zimmerman. Sie kommt seit etwa einem Jahr regelmäßig zum Gottesdienst.

Nach dem antisemitisch motivierten Anschlag auf eine Synagoge in Pittsburgh, bei dem im vergangenen Jahr elf Menschen ermordet wurden, wuchs bei der Softwareentwicklerin mit dem lila gefärbten Haar das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Sie empfinde es als Erleichterung, dass sich viele Leute bei BCC in ihre Situation hineinversetzen können. »Jeder kann wenigstens ein kleines bisschen nachempfinden, was ich durchmache.«

authentizität Einer, der sie gut verstehen kann, ist Kantor Porat. Als schwuler Mann und erster nach der Schoa in Deutschland ausgebildeter Kantor hat er selbst Erfahrung damit, was es bedeutet, anders zu sein. Er betrachtet es unter anderem als seine Aufgabe, Authentizität vorzuleben. Seine Devise: »Ja, so bin ich, und der Gott, an den ich mich entschlossen habe zu glauben, hat kein Problem damit.«

Für Porat bedeutet queer sein heute, furchtlos mit Tora und Tradition umzugehen. Deshalb fühlt er sich bei BCC zu Hause. »Hier sind Menschen, die in ihrem Leben Ausgrenzung und Diskriminierung erlebt haben«, sagt er. »Statt sich zu verschließen, sehen sie ihre Erfahrung als Geschenk an und haben einen Ort erschaffen, an dem jeder gefahrlos verschiedene Denk- und Herangehensweisen sowie unterschiedliche jüdische Rituale erproben kann.«

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