Ukraine

»Viele Juden sind heute an der Front«

Josef Zissels über den russischen Angriffskrieg, mögliche Verhandlungen und neue Hoffnungen

von Michael Gold  25.08.2024 17:51 Uhr

Einst Dissident und Menschenrechtsaktivist, heute Leiter einer der wichtigsten jüdischen Organsationen der Ukraine: Josef Zissels Foto: imago images/Uwe Steinert

Josef Zissels über den russischen Angriffskrieg, mögliche Verhandlungen und neue Hoffnungen

von Michael Gold  25.08.2024 17:51 Uhr

Herr Zissels, in der Ukraine herrscht inzwischen seit mehr als zwei Jahren Krieg. Was hat sich Ihrer Einschätzung zufolge seither verändert?
Ende des Jahres 2022, kurz nach der Befreiung der Stadt Cherson, schrieb ich einen Essay, in dem ich unsere Aussichten generell recht skeptisch beurteilte. Für das wahrscheinlichste Szenario – und ich glaube, die Zeit hat meine Prognose bestätigt – hielt ich eine Stabilisierung der Frontlinie und damit eine Pattsituation. Persönlich empfinde ich deshalb keine Enttäuschung. So oder so haben die meisten größeren militärischen Konflikte der Gegenwart nicht mit einem alles entscheidenden Sieg für eine der beiden Parteien geendet.

Was bedeutet das konkret?
Es ist wichtig, die Natur dieser Konfrontation zu verstehen. Im Jahr 2014 hatte Russland erst versucht, durch eine Art »eiserne« Umklammerung die Kontrolle über die Ukraine zurückzugewinnen. Man entfesselte einen klassischen imperialistischen Krieg. Im Jahr 2022 aber hat dieser Konfikt die Dimensionen eines Kampfs der Kulturen angenommen. Aktuell unterstützen 55 Länder die Ukraine, während sich China, Nordkorea, Kuba, der Iran, aber auch Syrien, Weißrussland und Venezuela auf die Seite Russlands gestellt haben.

Wie macht sich das bemerkbar?
Die Ressourcen beider Koalitionen sind praktisch unbegrenzt. Daher dauert der Krieg auch so lange und ist für alle Beteiligten mit großen Verlusten verbunden. Im Sommer 2023 hatte man sich viel von der Gegenoffensive versprochen, aber am Ende haben die Streitkräfte der Ukraine nur ein rund 400 Quadratkilometer großes Gebiet unseres Territoriums befreien können. Im Herbst begann sofort die russische Gegenoffensive, die bis heute andauert. Es gelang ihnen jedoch nur, etwa 1000 Quadratkilometer zu besetzen. Wenn man bedenkt, dass die Ukraine eine Fläche von 600.000 Quadratkilometern hat und damit größer als Frankreich und Belgien zusammen ist, zeigt sich an solchen Zahlen, wie der Krieg stagniert.

Gleichzeitig sind nun die Streitkräfte der Ukraine in die russische Region Kursk vorgerückt …
Stand heute wurden circa 1250 Quadratkilometer der russischen Gebiete besetzt. Die Frage ist nur, ob sie gehalten werden können. Wenn ja, könnten sie in Verhandlungen zu einem Austauschfonds werden, so offenbar das Kalkül. Putin wird einem solchen Austausch aber wohl nicht zustimmen. Der Durchbruch der russischen Grenze ist daher eher von symbolischem Wert, die Ukrainer haben Hoffnung gewonnen. Aber wir dürfen uns da keine Illusionen machen. Bisher haben die Russen noch nicht einmal Truppen aus dem Donbass in die Region Kursk verlegt.

Wer gewinnt am Ende diese Schlacht?
Meiner Meinung nach wird die Ukraine gewinnen. Putin wollte das Land schnell besetzen und die Regierung in Kyiv durch Marionetten austauschen. Genau dieses Szenario ist aber nicht aufgegangen, weshalb man danach notgedrungen auf einen Plan B setzte, sprich einen Zermürbungskrieg. Natürlich gibt es auch bei uns Ermüdungserscheinungen. Aber das ist ganz normal – schließlich kämpfen wir gegen eine Großmacht, und an der Front fehlt es an Leuten.

Was macht das mit Ihnen persönlich?
Ich selbst bin jetzt schon 77 Jahre alt, aber keineswegs inaktiv oder müde. Seit drei Jahren arbeite ich ohne Pause. Mit der Vereinigung jüdischer Organisationen stellen wir psychologische Rehabilitationsprogram­me, auch für Frontsoldaten. Wir sind angegriffen worden – wir müssen Widerstand leisten. Und das gilt auch für mich.

Halten Sie es für möglich, dass überraschende Ereignisse in Russland zu einem Ende des Krieges führen könnten?
Ich denke, dass Russland per se kein demokratisches Land werden kann. Es ist schlichtweg eine andere Zivilisation, weshalb auch ein anderer Wertekanon gilt. Nur eine vollständige Niederlage, beispielsweise in einem Krieg mit China, könnte diese Grundkonstante aufbrechen. Doch das ist extrem unwahrscheinlich. Denn China und Russland sind sich zu ähnlich. Beide Länder sind aus derselben totalitären Wiege hervorgegangen, sowohl in China als auch in Russland kamen im 20. Jahrhundert durch blutige Repressionen Millionen von Menschen ums Leben. Ist dafür jemals ein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen worden?

Und wenn Präsident Putin plötzlich das Zeitliche segnen sollte?
Selbst der Tod Putins würde uns allenfalls eine Atempause verschaffen, mehr nicht. Kürzlich wurde in Moskau der Europa-Platz in Eurasien-Platz umbenannt – das ist geradezu symptomatisch. Es ist einfach eine andere Zivilisation, das sagt alles. Schließlich sind auch die Versuche der Amerikaner gescheitert, im Irak oder in Afghanistan die Demokratie einzuführen, und das sind Länder, die viel stärker von äußeren Faktoren abhängig sind und sowohl von der Fläche als auch von der Bevölkerungszahl her mit Russland nicht vergleichbar wären.

Laut Umfragen befürworten 44 Prozent der Ukrainer, mit Russland Verhandlungen aufzunehmen. Gleichzeitig ist eine große Mehrheit von ihnen nicht bereit, Putins Konditionen dafür zu akzeptieren. Kann dieser Widerspruch irgendwie aufgelöst werden?
Ich halte das für leere Worte, weil die Soziologen den Befragten zunächst rein hypothetische Optionen für die Beendigung des Krieges nannten. Aber das ist kein Widerspruch, sondern spiegelt das ukrainische Selbstverständnis wider, das nun mal recht unscharf sein kann. So wurde auch einige Wochen vor Beginn des Krieges eine Umfrage durchgeführt, bei der 37 Prozent angaben, dass sie im Falle einer russischen Invasion zu den Waffen greifen würden. Und wo sind diese Menschen heute? Jedenfalls nicht an der Front. Aber so wie Israel kann es sich auch die Ukraine nicht leisten, zu verlieren. Ansonsten werden wir einfach vernichtet.

Worauf könnte man Ihrer Meinung nach verzichten, um Frieden mit Russland zu schließen? Welche Kompromisse würde die Mehrheit der Ukrainer akzeptieren?
Wer redet hier von Kompromissen? 1978 gelang es Israel und Ägypten, Gemeinsamkeiten in ihren jeweiligen nationalen Interessen zu identifizieren, woraus dann der Friedensprozess wurde. Für Ägypten war es sehr wichtig, den gesamten Sinai zurückzuerhalten, während Israel Sicherheit für seine Grenzen wollte. Der Friedensvertrag zwischen beiden Ländern ist nun 45 Jahre alt und hat sich bewährt. Aber mit Russland gibt es solche Gemeinsamkeiten nicht.

Warum?
Putin braucht die Kapitulation und Entmilitarisierung der Ukraine. Sein Ziel ist es, die Ukraine als eigenständige Nation auszulöschen. Und wenn wir von 37 Prozent der Ukrainer sprechen, die angeblich bereit wären, zu kämpfen, müssen wir verstehen, was die anderen 63 Prozent über diesen Krieg denken. An welche Art von Herrschaft sind sie bereit, sich anzupassen? Dies ist ein wichtiges Merkmal des kollektiven ukrainischen Selbstverständnisses.

Was zeichnet dieses aus?
Über 500 Jahre haben Ukrainer als Teil verschiedener Imperien oder Nationalstaaten überlebt und gelernt, sich an sie anzupassen. Die Rückkehr zu den Grenzen von 1991 wird ein langer Prozess sein. Doch wie viele Jahre hat Deutschland auf die Wiedervereinigung gewartet? Auch wir können das. Viele sind bereit, unter schwierigen Bedingungen zu überleben – daran haben sich die Ukrainer seit Generationen ohnehin gewöhnt. Wenn der Strom ausfällt, macht man eben Licht mit einer Batterie.

Geben die Ukrainer der Regierung eine Mitschuld an der Lage? Registriert man wegen der jüdischen Herkunft von Präsident Selenskyj mehr Antisemitismus?
Ich war schon vor dem Krieg und den Wahlen mit unserer Regierung unzufrieden. Aber es ergibt wenig Sinn, sie gerade jetzt zu ändern. Was den Anstieg des Antisemitismus betrifft – es gibt ihn nicht, und das ist verständlich. Der gesamte Hass richtet sich gegen Russland.

Viele Ukrainer bezweifeln, dass es das wahre Ziel des Westens sei, die Ukraine gewinnen zu lassen. Stimmt das?
Es gibt einen gewissen Unmut. Viele Ukrainer betrachten sich ebenso wie Juden in der Diaspora als Opfernation. Sie wurden schon immer unterdrückt. Und nun reduziert der Westen die Versorgung. Aber das ist verständlich. Der Westen befürchtet einen Atomkrieg, den ein in die Enge getriebener Kreml auslösen könnte. Ich glaube aber, dass selbst die Wiederwahl von Donald Trump für die Ukraine nicht fatal wäre. Schließlich lieferte er schon zu Poroschenkos Zeiten Waffen, die dazu beitrugen, den russischen Vormarsch zu Beginn des Krieges zu stoppen. Andererseits konnte Russland seine strategische Position auch in den sechs Monaten unter Biden, in denen die US-Hilfe praktisch eingestellt war, nicht wesentlich verbessern.

Was müsste geschehen, um eine gravierende Veränderung einzuleiten?
Lediglich eine grundlegende Verschiebung der außenpolitischen Koordinaten könnte eine völlig neue Situation schaffen, etwa eine plötzliche Abwendung Chinas von Russland hin an die Seite der Ukraine. Das ist jedoch ein unrealistisches Szenario – deshalb könnte der Krieg sich noch über Jahre hinziehen.

Inwieweit hat sich der Krieg auf die jüdische Bevölkerung der Ukraine ausgewirkt?
Vor dem Krieg gab es – wenn man im weiteren Sinne die Mitglieder gemischter Familien mitzählt – rund 250.000 Menschen jüdischen Glaubens. Heute dürften es nur noch 160.000 bis 170.000 sein. Unter den Juden gibt es mehr Binnenflüchtlinge als solche, die das Land verlassen haben. Die Gemeinden in der Westukraine sind sogar gewachsen – ich wurde kürzlich zur Brit Mila des Sohnes des Gemeindevorsitzenden in Czernowitz eingeladen. Über 200 Gäste kamen. Im Süden und Osten des Landes hingegen, wo besonders viele Juden lebten, sind manche Gemeinden praktisch zerstört. Natürlich helfen internationale jüdische Organisationen und auch wir den dort ausharrenden Menschen. Manchmal gelingt es uns sogar, etwas über die Frontlinie zu schicken.

Wie stark hat der Krieg das Selbstverständnis der ukrainischen Juden beeinflusst?
Ich bin davon überzeugt, dass der Krieg das Selbstverständnis, also unsere prägenden Werte, nur unwesentlich beeinflusst hat. Ohnehin ist das ein evolutionärer Prozess, der bereits seit 33 Jahren andauert. Vielleicht hat der Krieg manche Trends beschleunigt. Mit vielen Juden kommuniziere ich bereits ausschließlich auf Ukrainisch, zum Beispiel mit meiner jüngeren Tochter. Natürlich ist die Sprache ein wichtiger Identitätsmarker. Viele Soldaten sprechen weiterhin ausschließlich Russisch, was sie nicht daran hindert, die Ukraine zu verteidigen. Juden fühlen, dass die Ukraine trotz ihrer Probleme, unter anderem der Korruption oder sozialer Missstände, ihr Land ist.

Woran erkennt man das?
Viele Juden stehen heute an vorderster Front. Das ist bemerkenswert, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass das Durchschnittsalter in den Gemeinden nahe am Rentenalter liegt. Ungefähr 200 Israelis kämpften ebenfalls auf unserer Seite, kehrten aber nach dem 7. Oktober nach Israel zurück. Auch zählte man in den jüdischen Gemeinden zahlreiche Opfer und Verletzte. Zu Beginn des Krieges haben wir geholfen, mit der russischen Aggression irgendwie fertigzuwerden, und machen das auch weiterhin, vor allem in Städten mit größeren jüdischen Gemeinden wie Odessa, Dnipro oder Kyiv. Ich bin mir sicher, dass es in der Ukraine auch in Zukunft eine für europäische Verhältnisse sehr dynamische jüdische Gemeinde geben wird. Auf jeden Fall wollen wir nach dem Sieg die zerstörten Synagogen, Schulen oder Wohnhäuser wieder aufbauen.

Mit dem Vorsitzenden der Vereinigung jüdischer Organisationen in der Ukraine und Vizepräsidenten des Jüdischen Weltkongresses sprach Michael Gold.

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