Herr Zissels, der Kiewer Maidan-Aufstand liegt beinahe drei Jahre zurück. Wohin entwickelt sich die Ukraine?
Keine Revolution kennt das Ergebnis im Voraus. Das war bei der Maidan-Revolution nicht anders. Unser Land geht jetzt einen grundsätzlich richtigen Weg. Manchmal wünsche ich mir, dass nötige Veränderungen schneller vorankommen. Erstaunlich rasch haben sich aber zivilgesellschaftliche Strukturen entwickelt, die es vorher kaum gab.
Viele Beobachter sprechen von wachsender Resignation in Teilen der Bevölkerung.
In der Ukraine gibt es viel Hoffnung und viel Frustration nebeneinander. Mich fasziniert das engagierte und resolute Handeln der jungen Generation, die die Zukunft des Landes selbst in ihre Hand nimmt.
Betrifft das auch die junge jüdische Generation?
Selbstverständlich. Die jüdische Jugend war auf dem Maidan sehr aktiv, hatte eigene Opfer zu beklagen, und ihr politisches und ziviles Engagement hat sich nahtlos fortgesetzt. Es wurde unter anderem die Versorgung von Maidan-Verletzten in Israel und Hilfe für Kriegsflüchtlinge aus dem Donbass organisiert. Junge Aktivisten bestimmen neue gesellschaftliche Entwicklungen in verschiedenen Bereichen mit.
Wollen viele Juden das Land nun doch verlassen?
Generell eher nicht, aber aus dem umkämpften Donbass gibt es einen Exodus. Früher lebten dort 20.000 Juden, jetzt sind es nur noch etwa 8000, die meisten von ihnen alte, kranke und einsame Menschen. Von jenen, die den Donbass verlassen, gehen nicht wenige nach Israel.
Gibt es noch Kontakte zu den jüdischen Gemeinden im Donbass und auf der Krim?
Ja, aber eher sehr vorsichtig und auf niedrigem Level. Das hat auch damit zu tun, dass beide Regionen nun vom russischen Geheimdienst FSB stark durchsetzt sind. Jede Interaktion über Grenzen hinweg kann sofort ernsthafte Probleme erzeugen. In diesem Jahr ist es uns aber gelungen, Pessach-Mazzot sowohl in den Donbass als auch auf die Krim zu bringen. Beim Transport auf die Krim hat uns übrigens die tatarische Minderheit geholfen.
Wird die jüdische Gemeinschaft in der Ukraine vom Ausland unterstützt?
Von der amerikanisch-jüdischen Community kommt traditionell viel Unterstützung, aus Israel kommt einiges an Hilfe, aus Europa dagegen fast gar nichts.
Was wünschen Sie sich und den Gemeinden für das neue jüdische Jahr?
Für uns ist das Wichtigste natürlich ein Ende des Krieges in der Ostukraine. Es bleibt aber zu befürchten, dass bis dahin noch einige Zeit vergehen wird.
Mit dem Ko-Präsidenten der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden in der Ukraine sprach Olaf Glöckner.