Ich hoffe, Sie können zwischen den Zeilen lesen», sagt Leonid Lewin und erinnert an Lenin, der mit Milch statt mit Tinte schrieb, um unsichtbare Botschaften aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Der 75-Jährige ist Vorsitzender der jüdischen Gemeinden Weißrusslands. Er spricht in Andeutungen und Bildern und lässt seine Zuhörer mehr ahnen als verstehen, wie es um das Judentum in Belarus steht – einem Land, das die Welt «die letzte Diktatur Europas» nennt.
Vergangenheit Wer zwischen Brest und Witebsk nach Spuren jüdischen Lebens sucht, landet unweigerlich in der Vergangenheit. Ihr Glanz überstrahlt die Gegenwart, ihr Grauen überschattet sie. Fast eine Million Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Weißrussland. In vielen Städten machten sie die Hälfte der Einwohner aus, in manchen sogar 80 Prozent. Jüdische Handwerker, Kaufleute und Musiker prägten den Alltag, religiös gekleidete Juden waren an jeder Ecke anzutreffen. Marc Chagall machte die weißrussischen Schtetl mit seinen farbenfrohen Traumbildern in der ganzen Welt bekannt. Doch schon wenig später gab es sie nicht mehr. Zwischen 1941 und 1945 ermordeten die deutschen Besatzer in Weißrussland rund 700.000 Juden, das Ghetto in Minsk wurde zu einem der größten in Osteuropa.
«Dass hier überhaupt wieder jüdisches Leben existiert, ist ein Wunder», sagt Galina Lewina «Schließlich war alles, wirklich alles vernichtet.» Die Architektin und Kunstlehrerin koordiniert die Kulturarbeit des jüdischen Dachverbandes, zu dem sich mehr als hundert Organisationen zusammengeschlossen haben: Veteranenzirkel und Frauenvereine, Jugend- und Kulturgruppen aus dem ganzen Land. Offiziellen Zahlen zufolge leben heute 13.000 bis 14.000 Juden in Weißrussland. Tatsächlich seien es deutlich mehr, etwa 50.000, schätzt Lewina. Doch nur ein verschwindend geringer Teil von ihnen betrachtet sich als religiös.
Marina Grudko ist dafür das beste Beispiel. Die 22-Jährige hat in Minsk die Chabad-Schule besucht. Seit ein paar Jahren stellt ihre Familie zum Schabbat wieder Kerzen auf und feiert gemeinsam mit anderen die jüdischen Feiertage. «Wir mögen diese Traditionen», sagt Marina, «religiös sind wir nicht.» In der neuen Minsker Synagoge, vor der sie jetzt steht, war die Studentin noch nie. Vor mehr als fünf Jahren erbaut, wurde das Haus bis heute nicht eröffnet. Die verschiedenen Gruppierungen – orthodoxe, progressive und Chabad-Juden – können sich nicht einigen, wer die Synagoge unterhalten soll. Entworfen hat den modernen Bau mit seinen geschwungenen Linien Galina Lewina.
Feldsteine Viele Orte, die jüdisches Leben in Weißrussland oder die Erinnerung daran symbolisieren, gehen auf die Lewins zurück. Leonid Lewin, Galinas Vater, hat als Künstler und Architekt zahlreiche Gedenkstätten gestaltet. «Glocken des Schweigens», wie seine Tochter sie nennt: Die 37 Bronzefiguren auf dem Gelände des Minsker Ghettos, die wie gesichtslose Schatten in die «Jama» hinabsteigen, jene Grube, in der am 2. März 1942 rund 5.000 Juden getötet wurden.
Die abstrakte Andeutung verkohlter Fenster und Häuserbalken auf freiem Feld bei Gorodeja, wo 1942 am 17. Juli 1.137 Juden erschossen wurden und sich nun ebenso viele von den Dorfbewohnern zusammengetragene Feldsteine zu einem Strom vereinigen, der an die Ermordeten erinnert. Oder das berührende Denkmal in Krasnyj Bereg, wo etwa 3.000 Kinder als Blutspender für verwundete deutsche Soldaten gefangen gehalten wurden. Neben leeren Schulbänken und Glasmosaiken mit Kinderzeichnungen ist dort der Abschiedsbrief einer 15-Jährigen zu lesen, die den Tod der Verschleppung nach Deutschland vorzieht.
«Wenn ich meine Schüler frage, was der Holocaust ist, blicke ich oft in vollkommen ratlose Gesichter», erzählt Galina Lewina. Manche würden dann raten: eine Stadt in Asien vielleicht? «Es ist nicht ihre Schuld, dass sie so wenig darüber wissen», sagt die Kulturbeauftragte, «es zeigt, wie viel Aufklärungsarbeit wir noch leisten müssen.»
Deswegen wurde im Frühjahr das erste Lehrbuch über den Holocaust an weißrussischen Schulen verteilt, ein schmales Bändchen in der Auflage weniger Hundert Exemplare. Deswegen hat der Verband der jüdischen Gemeinden vor 20 Jahren Leonid Lewin zu seinem Vorsitzenden gewählt. Ein prominenter Künstler, so der Gedanke, würde den Anliegen des Verbandes endlich Gehör verschaffen. 1970 erhielt Lewin für seine Gedenkstätten-Architektur den Lenin-Orden, eine der höchsten Auszeichnungen der Sowjetunion. Und das als Jude in einem zutiefst antisemitischen Staat.
Autoritär Wie stehen die Mächtigen heute zu den Gemeinden? Wie positioniert sich Präsident Alexander Lukaschenko, der das Land seit 17 Jahren autoritär regiert und mithilfe eines riesigen Sicherheitsapparats jede Kritik unterdrückt? «Wir sind eine gesellschaftliche, keine politische Organisation», weicht Lewin aus. Jüdische Gemeinden und Vereine würden politisch nicht beschränkt und könnten frei agieren.
In der Tat unterstützt der Staat den Bau neuer Denkmäler, und an der Eröffnung der «Jama»-Gedenkstätte nahm Lukaschenko persönlich teil. Eine Rede im Minsker Ghetto widmete er kürzlich ausdrücklich dem Holocaust und dem Leid der Juden. Doch noch wenige Jahre zuvor hatte er Babrujsk, eine Stadt südöstlich von Minsk, als «Schweinestall» bezeichnet, um den sich die dort lebenden Juden nicht genug kümmern würden. «So etwas hören wir natürlich nicht gern», sagt Lewin, «aber es ist immer noch keine Äußerung, die Juden massenhaft der Vernichtung preisgibt.»
Beobachter werteten Lukaschenkos Entgleisungen damals als Versuch, sich dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad anzudienen. Er hatte Weißrussland Öl und lukrative Rüstungsaufträge versprochen. Auch die spätere Wiederannäherung an die Juden erklären sie mit dem Eigennutz des Regimes: Seit sich die Beziehungen zu Russland, einem der wenigen Partner Lukaschenkos auf internationaler Ebene, empfindlich abkühlten, suche dieser neue Verbündete, unter anderem in Israel und den USA. «Momentan stehen die Ampeln hier im Land für uns auf Grün», fasst Galina Lewina zusammen, «aber wir wissen sehr gut, dass nach Gelb auch wieder Rot kommen kann.»