US-Justiz

Verräter oder Held?

30 Jahre lang saß Jonathan Pollard im Gefängnis. Jetzt ist er frei

 16.11.2015 19:35 Uhr

Heirateten im Gefängnis: Pollard und seine zweite Ehefrau Esther (undatiertes Foto) Foto: Reuters

30 Jahre lang saß Jonathan Pollard im Gefängnis. Jetzt ist er frei

 16.11.2015 19:35 Uhr

An einem Freitagnachmittag im Herbst 1985 fiel einem Kollegen von Jonathan Pollard beim Marine-Nachrichtendienst auf, dass der damals 31-Jährige damit beschäftigt war, geheime Akten von seinem Arbeitsplatz fortzuschaffen, statt sich wie ein vernünftiger Mensch in ein gemütliches Wochenende zu verabschieden. Eine Woche später ertappte ihn das FBI auf frischer Tat und verhaftete ihn. Pollard log dreist, er handle auf Anweisung seiner Vorgesetzten – eine Lüge, die schnell aufflog.

Noch war aber nicht klar, dass Pollard im Auftrag einer fremden Macht handelte, also meldete das FBI ihn nur bei seinen Vorgesetzten. Die wollten ihn einem Lügendetektortest unterziehen. Das war dann der Moment, als Pollard gestand, dass er wohl so etwas wie ein Spion sei – er sagte aber nicht, für wen.

Pollards damalige Frau Anne hatte unterdessen einen 32 Kilo schweren Koffer mit hochgeheimen Dokumenten bei einem Nachbarn, einem Marineoffizier, untergestellt. Das FBI beobachtete das verdächtige Paar, unternahm aber vorerst nichts. Am 21. November 1985 versuchten Jonathan und Anne Pollard, auf das Gelände der israelischen Botschaft in Washington vorzudringen. Sie wollten Asyl beantragen, wurden aber von den Sicherheitsleuten gestoppt. Im selben Moment, als die beiden das Gelände der Botschaft verlassen hatten, wurden sie vom FBI verhaftet.

Und so begann einer der größten, skandalträchtigsten, in vieler Hinsicht auch merkwürdigsten Spionagefälle in der amerikanischen Geschichte. Am Freitag wurde Jonathan Pollard – nach 30 Jahren Haft – vorläufig auf freien Fuß gesetzt: mit der Auflage, die Vereinigten Staaten innerhalb der nächsten fünf Jahre nicht zu verlassen.

Biografie Lässt man die Lebensgeschichte Jonathan Pollards Revue passieren, dann fragt man sich: Wie konnte ein solcher Mann je in eine Position gelangen, in der er amerikanische Geheimdokumente in die Finger bekam? Schließlich war er ganz offenkundig »psychisch instabil«, wie es die Amerikaner höflich ausdrücken.

Jonathan Pollard wurde 1954 als Sohn einer jüdischen Familie in Texas geboren. Früh wurde ihm klar, dass der deutsche Völkermord an den Juden seine Familie schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte. Zu seiner Barmizwa wünschte er sich statt der üblichen Geschenke eine Reise nach Auschwitz.

Als Schüler besuchte er einen Sommer lang das Weizmann-Institut für Wissenschaften im israelischen Rechovot. Während er dort war, musste er ins Krankenhaus, weil er sich mit einem anderen Schüler geprügelt hatte. Später erinnerte sich ein Wissenschaftler, Pollard sei ein Albtraum gewesen, der schlimmste Teenager, den sie dort jemals ertragen muss-ten.

Später studierte Pollard Politikwissenschaften in Stanford. Er behauptete dort, er sei amerikanischer und israelischer Staatsbürger, bekleide den Rang eines »Aluf Mischne«, eines Oberst der israelischen Armee, und arbeite für den Mossad – alles frei erfunden, versteht sich.

Als Pollard sich für einen Job bei der CIA bewarb, wurde er abgelehnt, weil es zu seinen Angewohnheiten gehörte, wilde Drogenpartys zu feiern. Also bewarb er sich beim Geheimdienst der Marine. Und weil amerikanische Dienste nur dann Informationen untereinander austauschen, wenn sie dazu gezwungen werden, fand er eine Anstellung. Allerdings fiel er bald durch vollkommen wahnsinnige Pläne über die Zusammenarbeit mit dem südafrikanischen Geheimdienst auf. Zeitweise wurde er nicht mehr an hochbrisantes Material herangelassen. Aber niemand kam auf die naheliegende Idee, diesen Mann zu feuern.

Bald nachdem er beim Marinenachrichtendienst angefangen hatte, fing Pollard an, für Israel zu spionieren. Allerdings nicht für den Mossad. Der Kontakt lief über einen Veteranen der israelischen Luftwaffe, mit dem Pollard befreundet war. Dieser Mann arbeitete für »Lekem«, einen kleinen israelischen Geheimdienst, der dann aufgrund der Pollard-Affäre aufgelöst wurde. Die Israelis behaupteten darum lange, Jonathan Pollard sei gar nicht ihr Mann, es handle sich um eine eigenmächtige Operation, von der die Regierung nichts gewusst habe. Erst zehn Jahre nach seiner Verurteilung erkannten sie ihn an.

Einen Prozess gegen Jonathan Pollard, mit Geschworenen und Anwälten, hat es nie gegeben. Der Verdächtigte bekannte sich schuldig und arbeitete mit der Staatsanwaltschaft zusammen. Er hoffte auf eine milde Strafe. Allerdings hatte er die strenge Auflage, nicht mit der Öffentlichkeit zu reden. Und gegen diese Auflage verstieß Pollard gleich mehrfach. Am eklatantesten tat er dies, als er dem Journalisten Wolf Blitzer, der damals für die Jerusalem Post arbeitete, in der Haftzelle ein Interview gab.

Am 15. Februar 1987 erschien dann ein Artikel von Blitzer, der Jonathan Pollard als israelischen Meisterspion pries. Detailliert beschrieb er, welche Informationen Pollard (nach dessen eigenen Angaben) nach Jerusalem weitergegeben habe – zum Beispiel: Einzelheiten über das damalige PLO-Hauptquartier in Tunis, Fakten über die chemischen Waffen, die der Irak und Syrien produzierten, Brisantes über sowjetische Waffenlieferungen an die arabischen Staaten.

Dass Pollard sich nicht an das Schweigegebot des Gerichts gehalten hatte, war vermutlich ein Grund dafür, dass ihn die volle Schärfe des Gesetzes traf. Der andere Grund dürfte ein Brief des damaligen amerikanischen Verteidigungsministers Caspar Weinberger gewesen sein, den er an Aubrey Robinson schrieb, den Richter in diesem Fall. Weinberger bezeichnete Pollard als hochgefährlichen, skrupellosen Verräter. Richter Robinson setzte sich über die Wünsche der Staatsanwaltschaft hinweg, die Jonathan Pollard nur ein paar Jahre aufbrummen wollte, und verurteilte ihn zu lebenslänglicher Haft.

Meinungslager Der Fall Jonathan Pollard hat dazu geführt, dass sich höchst unterschiedliche Meinungslager gebildet haben. Nur zwei von ihnen sind in sich widerspruchsfrei: die Israelis und die Antisemiten. Für die israelischen Juden, jedenfalls die meisten von ihnen (und keineswegs nur für die Rechten), ist Jonathan Pollard ein Held. Sie verstehen nicht, warum der amerikanische Verbündete einen israelischen Agenten mit solcher Härte behandelt, und haben sich bisher noch von jedem amerikanischen Präsidenten gewünscht, dass er Pollard endlich begnadigen soll: »Rozim et Pollard babajit« lautet ihr Slogan – wir wollen Pollard zu Hause haben. Für die Antisemiten dagegen ist dieser Spion naturgemäß ein weiterer Beweis dafür, dass man Juden nun mal nicht trauen könne.

Die meisten amerikanischen Juden haben dagegen höchst zwiespältige Gefühle gegenüber Pollard. Manchen ist der Casus einfach peinlich. Andere fürchten den Vorwurf der »doppelten Loyalität«. Wieder andere empfinden es als schmachvoll, dass amerikanische Juden diesen Vorwurf fürchten. Viele – wie der berühmte Rechtsanwalt Alan Dershowitz – glauben, dass Pollards Verbrechen zwar unbestreitbar, sein Strafmaß aber trotzdem unangemessen hoch sei, und dass es für diese gnadenlose Härte eigentlich nur eine Erklärung gibt: Antisemitismus. Wieder andere Juden denken, Jonathan Pollard sei recht geschehen – und zwar keineswegs nur solche Juden, die antiisraelisch eingestellt sind.

Varianten Unterdessen kursieren zwei grundverschiedene Geschichten, was Pollard eigentlich angestellt hat. Die Variante der Pollard-Verteidiger geht so: Der Mann ist ein jüdischer Patriot. Er hat nicht für einen Feind der Vereinigten Staaten spioniert, sondern für einen Verbündeten – und zwar in einer Zeit, als die CIA glaubte, sie könne mit Saddam Hussein zusammenarbeiten, und die Reagan-Regierung stinksauer war, weil Israel den Reaktor von Osirak bombardierte. Pollard hat zwar gegen das Gesetz verstoßen, aber dabei aus purem Altruismus überlebenswichtige Informationen für Israel zusammengetragen.

Variante zwei geht so: Pollard hat keineswegs aus jüdischem Patriotismus gehandelt, sondern sich seine Dienste gut bezahlen lassen (mit 2500 Dollar pro Monat, kostbare Geschenke nicht eingerechnet). Zur Zeit seiner Verhaftung verhandelte er gerade mit seinen israelischen Auftraggebern über eine Gehaltserhöhung. Er hat das Geld auf der Stelle verjuxt und verspielt. Ehe er sich an Israel wandte, wollte er seine Informationen drei anderen Ländern verkaufen: Pakistan, Südafrika und Australien. Er hat keineswegs nur Informationen über arabische Länder an Israel weitergegeben – dazu war es viel zu viel Material. So hat er ein zehnbändiges Handbuch weitergereicht, anhand dessen klar wird, wie die NSA militärische Gespräche abhört – nicht nur israelische, sondern zum Beispiel auch jene der Sowjetunion. Er hat die »National Signals Intelligence Requirement List« verraten, die klarmachte, für welche Weltregion sich die NSA gerade besonders interessierte – oder anders gesagt: wo die Amerikaner sich gerade auf den nächsten militärischen Konflikt vorbereiteten.

Jonathan Pollard hat Memos der sechsten amerikanischen Flotte weitergereicht, in denen ein Jahr lang Tag für Tag festgehalten wurde, wie die amerikanische Kriegsmarine die Schiffsbewegungen der Sowjets im Mittelmeer beobachtet. Er hat Dokumente gestohlen, aus denen hervorging, dass amerikanische Satelliten nicht nur im Moment des Vorbeifliegens, sondern mittels schräg gestellter Kameras auch davor und danach Fotos schießen konnten. Und so weiter und so fort.

Sehr viele von diesen Informationen landeten am Schluss nicht nur in Jerusalem, sondern auch in Moskau – sei es, weil im israelischen Geheimdienst ein sowjetischer Maulwurf saß, oder weil die Israelis diese Dokumente weitergaben, damit im Austausch russische Juden freikamen.

Schwerkrank Fast alle, die sich näher mit dem Fall beschäftigt haben, neigen zu Variante Nummer zwei: Pollard hat mit seinem Verrat den amerikanischen Interessen massiv geschadet. Übrigens ist es keineswegs so, dass er nun von Präsident Obama begnadigt worden wäre. Es handelt sich vielmehr um simple Arithmetik: Nach 30 Jahren kommt in diesem November ganz routinemäßig die Zeit der »parole«, der bedingten Haftentlassung.

Heute ist Jonathan Pollard ein schwer kranker Mann. Aus humanitären Gründen muss man es darum begrüßen, dass Israel angekündigt hat, man werde ihm »im vernünftigen Rahmen« die finanziellen Mittel bereitstellen, damit er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Aber es gibt wirklich keinen Grund mehr, die heroische Legende aufrechtzuerhalten. Nach allem, was wir heute wissen, ist Pollard kein Held.

Gerichtsurteil

Haftstrafen für Gewalt gegen Israelis in Amsterdam

In digitalen Chat-Gruppen war der Anklage zufolge zu einer »Jagd auf Juden« aufgerufen worden

 24.12.2024

Kanada

Jüdische Mädchenschule in Toronto zum dritten Mal beschossen

Auch im vermeintlich sicheren Kanada haben die antisemitischen Angriffe extrem zugenommen - und richten sich sogar gegen Kinder

 23.12.2024

Bulgarien

Kurzer Prozess in Sofia

Der jüdische Abgeordnete Daniel Lorer wurde von seiner Partei ausgeschlossen, weil er nicht zusammen mit Rechtsextremisten stimmen wollte

von Michael Thaidigsmann  23.12.2024

Großbritannien

Gerechtigkeit und jüdische Werte

Sarah Sackman wurde als frisch gewählte Abgeordnete zur Justiz-Staatsministerin ernannt

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  23.12.2024

Spanien

Tod in den Bergen

Isak Andic, Gründer der Modekette Mango und Spross einer sefardischen Familie aus der Türkei, kam bei einem Familienausflug ums Leben

von Michael Thaidigsmann  23.12.2024

Australien

»Juden raus«-Rufe vor Parlament in Melbourne

Rechtsextremisten haben vor dem Regionalparlament in Melbourne antisemitische Parolen skandiert

 23.12.2024

Guatemala

Rund 160 Kinder vor ultraorthodoxer Sekte gerettet

Laut Behördenangaben wurden auf dem Gelände von »Lev Tahor« mutmaßliche sterbliche Überreste eines Kindes gefunden

 22.12.2024

Analyse

Putins antisemitische Fantasien

Der russische Präsident ist enttäuscht von der jüdischen Diaspora im Westen und von Israel

von Alexander Friedman  22.12.2024

Diplomatie

Israel und Irland: Das Tischtuch ist zerschnitten

Politiker beider Länder überhäufen sich mit Vorwürfen. Wie konnte es so weit kommen?

von Michael Thaidigsmann  18.12.2024