Russland

Vermeintlicher Volkswille

Zu Gast im Kreml: Russlands Chabad-Oberrabbiner Berel Lazar und FEOR-Chef Alexander Borodaj (r.) am 26. Januar bei Präsident Wladimir Putin Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Die Formel »auf Wunsch der Werktätigen« dürfte allen ein Begriff sein, die sich an den real existierenden Sozialismus erinnern. Hinter ihr versteckt sich die Legitimation und Durchsetzung einer als Initiative von unten verschleierten Direktive.

Diese Praxis hat sich ins heutige Russland hinübergerettet, wenngleich als Subjekt inzwischen Bürger ohne sozialistische Farbgebung in Erscheinung treten und ihre Wünsche beileibe nicht immer in Erfüllung gehen. Als Warnsignal müssen sie indes allemal ernst genommen werden. Insbesondere dann, wenn es sich um eine Aktion mit antijüdischer Zielrichtung handelt.

PAMPHLET Anfang Februar wandte sich eine angebliche »Bürgerinitiative« an Dmitrij Asarow, den Gouverneur von Samara. Die Öffentlichkeit erfuhr davon über den Telegram-Kanal Disclosed_blog mit knapp 23.000 Followern. Einzelne Vertreter überreichten dem Regionaloberhaupt einen Forderungskatalog mit mehr als 1000 gesammelten Unterschriften. Dabei handelt es sich um ein Pamphlet gegen die Chabad-Lubawitsch-Bewegung – stilistisch ganz im Einklang mit den Nachrichten staatlicher oder staatsnaher Propagandakanäle des russischen Fernsehens oder sozialer Netzwerke verfasst.

Die Verfasser beklagen, dass Chabad-Vertreter, die von der New Yorker Zentrale als Rabbiner nach Russland entsandt werden, unter dem Vorwand, das jüdische Gemeindeleben zu fördern, in Wirklichkeit eine »rassistische Ideologie« vorantrieben. Die Verfasser konstatieren gar einen »erheblichen Einfluss« der Chabad-Bewegung auf die russischen Eliten im ganzen Land und die Untätigkeit der Behörden, die bislang keinen Gebrauch von der geltenden Gesetzgebung gemacht hätten, um Dutzende aus dem Ausland stammende jüdische Spitzel als »ausländische Agenten« im entsprechenden offiziellen Register zu erfassen.

Manch einer sieht darin einen Angriff gegen die ganze Gemeinde.

Dementsprechend konzentrieren sich die Forderungen auf folgende Punkte: Rabbiner Shlomo Deutch, der Oberrabbiner von Samara, solle auf sein Wirken als »ausländischer Agent« geprüft und die internationale Chabad-Bewegung gleich ganz verboten werden. Im Falle einer Einstufung als »unerwünschte ausländische Organisation« hätte es strafrechtliche Konsequenzen, wenn Rabbi Deutch seine Tätigkeit fortsetzen würde.

Außerdem wird eine Prüfung des Buches Tanja auf »extremistische Inhalte« hin gefordert. Damit geht ein Angriff auf die Lehre des Chabad-Chassidismus einher, denn in dem Buch hält Chabad-Gründer Rabbi Schneor Salman von Ljadi (1745–1812) die Grundlagen der Bewegung fest. Angeblich sei darin festgeschrieben, dass das jüdische Volk anderen Völkern überlegen sei, Nichtjuden seien minderwertig. Darüber hinaus propagiere das Buch Rassismus, NS-Ideologie und Menschenhass. Fürsprecher der Bewegung im russischen Staatsapparat sollten ihrer Ämter enthoben werden. Analoge Forderungen gingen an die Führung der Republik Baschkortostan westlich des Uralgebirges.

ZUSAMMENHÄNGE Um reinen Zufall dürfte es sich hier kaum handeln. Geht man in der Chronologie etwas zurück, lassen sich schnell Kausalzusammenhänge ausmachen. Unmittelbar vor dem Gedenktag an die Opfer der Schoa am 27. Januar fand ein Treffen von Präsident Wladimir Putin mit Berel Lazar statt, dem Oberrabbiner des größten religiösen Verbundes in Russland, der Föderation jüdischer Gemeinden, kurz FEOR. Anwesend war auch FEOR-Präsident Alexander Borodaj. Nach Angaben des Kreml versicherte Putin bei dem Gespräch, seine Politik sei darauf ausgerichtet, dass sich Verbrechen wie die Ermordung der Juden während der Schoa niemals wiederholten. Und Berel Lazar betonte seinerseits, alles tun zu wollen, damit Frieden in der Welt einkehre.

Wenige Tage später verfasste der Rabbiner einen Friedensappell: »Ich bin bereit für jede Art der Vermittlung, bereit, alles zu tun, was in meiner Macht steht, ja sogar mehr als das, nur um die Waffen zum Schweigen zu bringen und damit keine Bomben mehr fallen! Jetzt aber ist es an der Zeit für gemeinsames Handeln. Deshalb wende ich mich an religiöse Oberhäupter in der Ukraine, Russland, Europa und auf anderen Kontinenten mit dem Aufruf, gemeinsam für den Frieden einzutreten.«

Noch deutlicher hätte er sich kaum ausdrücken können. Im Kreml hingegen, wo die Zeichen weiterhin auf Kriegskurs stehen, dürfte seine Botschaft äußerstes Missfallen erregt haben.


Der frühere Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt appelliert an alle Juden in Russland, die Ausreise nicht länger hinauszuzögern.

Berel Lazar wurde immer ein recht gutes Verhältnis zu Putin nachgesagt, was sicherlich nicht zuletzt seiner politischen Zurückhaltung geschuldet war. Er dankte dem russischen Präsidenten bei dem jüngsten Treffen ausdrücklich für dessen Unterstützung und fügte sogar hinzu, dass sich Jüdinnen und Juden auch heute in Russland wohlfühlten.

Die Zahlen sprechen indes eine andere Sprache: Allein in den ersten sechs Monaten nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben mehr als 20.000 Menschen mit jüdischen Wurzeln Russland verlassen. Der frühere Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt spricht von 25 bis 30 Prozent der jüdischen Bevölkerung Russlands. Ginge es nach ihm, sollte auch der Rest die Ausreise nicht länger hinauszögern.

EXIL Bereits im März 2022 hatte Goldschmidt seinen langjährigen Wohnsitz in Moskau aufgegeben, danach wurde sein Vertrag mit der Moskauer Choralsynagoge nicht mehr verlängert. In seiner Eigenschaft als Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz nimmt er jedoch weiterhin Stellung zu aktuellen Vorkommnissen in Russland, so auch zu den denunziatorischen Angriffen auf chassidische Anhänger des orthodoxen Judentums. Anders als die in Russland verbliebenen Angehörigen jüdischer Gemeinden kann er es sich leisten, dies frei heraus zu tun.

Goldschmidt und so manch anderer ist davon überzeugt, dass sich der jüngste Vorfall gegen die jüdische Gemeinschaft in Russland insgesamt richtet. Überdies sieht er einen Zusammenhang zu den antisemitischen Aussagen von Aleksej Pawlow, Generalleutnant des Inlandsgeheimdienstes FSB, im vergangenen Oktober. In einem Gastbeitrag für die russische Wochenzeitung »Argumenty i Fakty« über die vermeintliche Notwendigkeit einer »Desatanisierung« der Ukraine nannte Pawlow die Chabad-Bewegung eine »neuheidnische Sekte«.
Im Januar schied Pawlow auf Putins Anweisung aus dem Amt des Referenten des Sekretärs des russischen Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew.

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