Edgware, der letzte U-Bahnhof im Londoner Norden. Hier und im noch nördlicheren Umland haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr jüdische Familien angesiedelt, die ein Häuschen mit Garten einer engen Innenstadtwohnung vorziehen. An der großen Straßenkreuzung gibt es ein Dutzend jüdischer Geschäfte: einen Laden für Religiöses, einen Imbiss, einen Metzger, eine Bäckerei und ein Café – allesamt koscher. Und es gibt Nat Jacobs, die beste Adresse vor Ort, wenn es um koscheren Fisch geht.
Auf zerstoßenen Eisstücken liegen die verschiedensten Sorten einstiger Meeres- und Seebewohner: Lachse, Karpfen, Seebarsche, Schellfische und Schollen. Im Schaufenster laden frisch frittierte Köstlichkeiten wie Fischbällchen zu einem Mittagshäppchen ein.
Qualität Sheila Weinstock lässt sich 60 Gramm Lachs einpacken. »Ich komme regelmäßig zu Nat Jacobs«, schwärmt die 78-Jährige und versichert: »Hier stimmt die Qualität.« Auch June Leader, eine 85 Jahre alte Dame mit riesiger Davidstern-Kette um den Hals, steht mit frischem Fisch an der Theke. Ein pakistanischer Angestellter in weißen Gummistiefeln und schwarzer Plastikschürze bedient die beiden Frauen.
Rechts an der Kasse steht, ebenfalls in Gummistiefeln, ein beleibter orthodoxer Jude: Moishe Schmahl (29). Er hat das Geschäft vor drei Jahren übernommen. »Ein Freund, selbst Fischverkäufer, hat mich damals überredet.« Moishe ist der Erste in seiner Familie, der Lebensmittel verkauft. Nat Jacobs, der Schriftzug an der Tür, ist der Name des früheren Geschäftsinhabers, der hier über viele Jahre mit seiner Frau den Laden führte, erklärt Moishe.
Er selbst kennt die beiden nicht, sie gingen schon vor seiner Ankunft in den Ruhestand. Doch bei Sheila und June kommen Erinnerungen hoch: »Oh, die beiden waren ein nettes Paar«, bestätigen sie sich gegenseitig. Fisch zu verkaufen, sei nicht schwer, meint Moishe. Zumindest nicht so schwer wie Fleisch zu verkaufen. »Die Gesetze der Kaschrut verlangen, dass nur Fische verkauft werden, die Schuppen und Flossen haben – das ist auch schon alles«, sagt er.
Moishe betrachtet das Koscher-Zertifikat seines Ladens. Er hat es vom lokalen Beit Din bekommen und direkt neben das Hygienezeugnis an die gekachelte Wand hinter ihm gehängt. Daneben surrt ein lauter Kühlkasten voller Lachspackungen.
Gesundheit »Ob mein Fisch gesünder ist, weil er koscher ist?« Moishe weiß es nicht genau. Doch generell sei koscher gesünder, glaubt er. »Mein Fisch ist aber mit Sicherheit sauberer als nichtkoscherer«, behauptet er.
Moishe, der mit dem Geschäft seine Familie unterhalten kann, versteht sich in erster Linie als Geschäftsmann. Das Verlangen, Fische selbst zu angeln, verspüre er nicht. Auch war er noch nie zum Fischfang auf hoher See. Eher fährt er mal auf den Londoner Fischgroßmarkt bei Billingsgate, aber auch das komme nicht allzu oft vor, gesteht er, denn das erfordere besonders frühes Aufstehen. »Man muss gegen vier Uhr los«, sagt er.
Dass er dennoch hin und wieder dorthin fährt, liegt daran, dass er gelegentlich die Lieferanten und Großhändler persönlich treffen will. Anders als er selbst seien sie nämlich alle nichtjüdisch. »Ich muss ihnen erklären, dass bei der Lieferung keine Fehler auftreten dürfen, die gegen die Kaschrut verstoßen«, schildert er.
Moishe betont, es gehe ihm nicht allein um koscheren Fisch, sondern auch um die beste Qualität. Das sei das Einzige, was ihn von den billigeren Koscherfisch-Angeboten in den Supermärkten unterscheidet. Der Großteil des Fischs kommt bei ihm deshalb aus Norwegen oder Schottland, »denn der hat die beste Qualität«, erklärt Moishe.
neujahrsfest Gerade jetzt, kurz vor Rosch Haschana, muss Moishe gut koordinieren, dass alles wie am Schnürchen läuft. Denn Fisch gehört zum Neujahrsfest. »Es ist ein kulinarischer Brauch, den Kopf eines Fischs zu essen, denn das soll den Kopf, den Anfang des Jahres symbolisieren.« Angeblich habe man einst den Kopf eines Schafs gegessen, »aber weil es für viele schwer ist, einen zu besorgen, verzehren die meisten Fisch«. Welche Art Fisch, ist dabei egal, solange er koscher ist. Moishes Kunden bevorzugen Karpfen, denn viele von ihnen haben osteuropäische Wurzeln.
Der Verzehr des Fisches hat dann auch seine eigene Bedeutung. Er soll an den Segen Jakobs erinnern: »Vermehrt euch wie die Fische«, so steht es geschrieben. Bei Moishe scheinen der Segen und das Fischessen geholfen haben: Er hat inzwischen sechs Kinder.
Hinter der Verkaufstheke hat einer von Moishes Mitarbeitern auf einem schmalen Tisch rund 20 weiße Styroporschalen nebeneinander aufgestellt und verpackt Lachsstücke. »Wir liefern auch an viele Supermärkte, wie Kosher Kingdom, den größten in der Gegend«, bemerkt Moishe nicht ohne Stolz. »Außerdem liefern wir den Fisch auch direkt an die Kunden.« Hinzu kommen Gefilte Fisch sowie eingelegte oder frittierte Fische.
delikatessen Nicht Moishe selbst, sondern seine Mitarbeiter kümmern sich um diese Delikatessen. Allen voran Taqueer Hussain. Der 33-Jährige bereitet jüdische Spezialitäten zu, obwohl er selbst Muslim ist. »Juden und Muslime leben hier nah beieinander. Es ist daher ganz normal für uns, miteinander zu arbeiten«, erklärt Taqueer, während er mit einem Messer einen Fisch entschuppt.
Nach so vielen Jahren bereitet er die verschiedensten jüdischen Gerichte unschlagbar gut zu. Ihm gefalle die Arbeit, gerade weil es ein jüdisches Fischgeschäft ist, sagt er. »Vor allem die Arbeitszeiten sind gut, denn wir hören schon am Nachmittag auf. Hinzu kommen die Schließzeiten am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen.«
Doch Taqueer gibt zu, dass er abends zu Hause lieber pakistanische Gerichte zubereitet. »Die Gewürze, mit denen ich aufgewachsen bin, fehlen mir in den jüdischen Speisen.«
taxifahrerseelen Inzwischen ist das Taxi einer älteren Stammkundin angekommen und steht vor dem Laden im Halteverbot. Noch ist nicht alles eingepackt. Man hört lautes Hupen. Geschickt weiß Moishe, wie man Taxifahrerseelen beruhigt. »Ein paar Minuten im Halteverbot dürften ganz bestimmt okay sein«, sagt er beschwichtigend und überreicht dem Fahrer ein Gratis-Schälchen frittierter Leckereien als Entschädigung fürs Warten. »Man muss wissen, wie man mit den Kunden umgeht«, sagt Moishe, »denn auch das ist ein wichtiger Teil des Fischverkaufs.«
Sicherlich hilft so eine kleine gute Tat im Monat Elul dann auch in der alljährlichen Gesamtbewertung an Jom Kippur – solange nicht gleich ein Hilfspolizist mit einem Strafzettel für das Taxi im Halteverbot auftaucht.