Frankreich hat seine rotweingetränkten Schmorgerichte, Belgien unzählige Variationen frittierter Kartoffeln und Deutschland mindestens so viele Wurstsorten wie es Landkreise gibt. Die Küche Luxemburgs, des weltweit einzigen noch existierenden Großherzogtums, nimmt sich wie eine rustikale Mischung daraus aus. Als typisch luxemburgisch gilt etwa Ierzebulli (ein Eintopf, der übersetzt »Erbenschlamm« heißt), Kuddelfleck (Pansen in Tomatensoße) und Bouneschlupp, eine deftige Bohnensuppe, in die gezuckerte Pfannkuchen getaucht werden. Und dann ist da das Nationalgericht: Judd mat Gaardebounen, Schweinehals mit Saubohnen und Kartoffeln.
Erst viele Jahre nach meinem Wegzug nach Deutschland kam mir der eigentümliche Name unseres Nationalgerichts erneut in den Sinn: Jude mit Gartenbohnen. Gartenbohnen sind in Deutschland auch als »Saubohnen« bekannt. Was aber könnte die Speise mit Juden zu tun haben?
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Gericht einen antisemitischen Hintergrund hat. Die spanische Inquisition etwa benutzte Gerichte mit Schweinefleisch, um Juden aufzuspüren, die nur zum Schein konvertiert waren. Ob es sich um echte Conversos oder um sogenannte Kryptojuden oder Marranos (Spanisch für Schweine) handelte, sollte der öffentlich vollzogene Bruch mit jüdischen Speisevorschriften belegen.
Allzu häufig kam der Jude mit Gartenbohnen bei uns nicht auf den Tisch. Meine Schwester und ich zeigten wenig Begeisterung für die luxemburgische Küche und so starben kulinarische Traditionen in unserem Haushalt nach und nach aus. Eine Tradition jedoch, auf deren Einhaltung die Eltern bestanden, war die Dankbarkeit gegenüber Amerika. Noch im kleinsten Dorf befand sich an prominenter Stelle eine Gedenkstätte, die den Befreiern ewige Dankbarkeit versprach. Pétange, der Ort, in dem ich aufwuchs, ein kleines, vom Bergbau geprägtes Städtchen, hatte gleich mehrere solcher Denkmäler. Mich hat als Kind am meisten das eines M8 »Greyhound« Panzerwagens der US-Streitkräfte beeindruckt, der gut gepflegt in der Nähe der alten Mühle stand. Die Inschrift auf dem begleitenden Emaille-Schild wies auf Englisch darauf hin, dass an dieser Stelle am 9. September 1944 der erste amerikanische Soldat sein Leben für die Befreiung Luxemburgs gelassen hatte. Dazu dessen Rang und Name: »2nd Lieutenant, Hyman Josefson«.
Dank an die Amerikaner
Josefson, Sohn rumänischer Juden und Absolvent der Cornell University, meldete sich nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor wie Hunderttausende anderer Juden freiwillig zur US-Armee. Er landete 1944 in der Normandie, nahm an der Befreiung von Paris und Belgien teil und fuhr die »Liberty Road« entlang nach Luxemburg, wo er von einer deutschen Granate getötet wurde. 1947 wurde der Gedenkort errichtet, der in den Jahrzehnten danach zum Pilgerort für Veteranen wurde. In einer Grußbotschaft zum 65. Todestag von Hyman Josefson schrieb Präsident Obama 2009: »Gemeinsam mit dem amerikanischen Volk bedanke ich mich dafür, dass Sie unsere gemeinsame Geschichte bewahren und allen Besuchern von Pétange die Möglichkeit geben, unsere Soldaten zu ehren, die im Namen der Freiheit gekämpft haben.«
Nicht nur die Denkmäler bewahrten die Geschichte, auch die zahlreichen Cafés, die entweder »de la Paix« oder »de la Libération« hießen, hielten die Zeit der Befreiung in Erinnerung. Und die eigenen Eltern und Großeltern, die von der Besatzung durch die Deutschen erzählten oder von ihrer Kindheit in Trümmern und Armut. Mein Vater berichtete, man hätte ihm als Kind eingeschärft, in der Gegenwart der Besatzer nur die deutsche Aussprache seines Namens zu benutzen. Und als ich mich einmal mit einem Schulfreund verabreden wollte, nahm er mich zur Seite und verbot mir den Kontakt, da es sich bei dessen Großvater um einen bekannten Kollaborateur von der luxemburgischen Volksdeutschen Bewegung gehandelt haben soll. Darum sei die ganze Familie zu meiden.
Im Grunde genommen wuchsen meine Schwester und ich in einer Nachkriegszeit auf, in der es eindeutige Freunde und ebensolche Feinde gab. Feinde, das waren noch zwei Generationen nach der Befreiung vor allem die Deutschen, die man pauschal »Preisen« schimpfte. Bis heute überlagern Erzählungen eines trotzigen Widerstandes und patriotischen Antifaschismus’ die tatsächliche Geschichte, die auch von Antisemitismus, Kollaboration und späterer Verdrängung geprägt war. Unter Historikern wird bis heute darüber gestritten, ob das Land überhaupt eine echte Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit erfahren hat. Immerhin wurden nach dem Krieg mehr als 2000 Kollaborateure von luxemburgischen Gerichten verurteilt, acht davon zum Tode.
Einen palästinensischen Staat erkennt Luxemburg nicht an
In Bezug auf Israel nimmt das Land heute eine widersprüchliche Haltung ein. Einerseits hat es die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance angenommen, andererseits ist im Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung des Antisemitismus von 2023 von der gegenwärtig aggressivsten und verbreitetsten Form des Judenhasses, dem Antizionismus, keine Rede. Einen palästinensischen Staat erkennt Luxemburg nicht an, jedoch hat es in den vergangenen zehn Jahren keine einzige israelfreundliche UN-Resolution mitgetragen. 2020 war Luxemburg sogar das einzige EU-Land, das die Abraham-Abkommen kritisierte. Die Organisation UN Watch bezeichnete das Großherzogtum als »antiisraelischen Staat der EU«.
Ich kann mich nicht erinnern, dass es in den 80ern und 90ern zu nennenswerten antisemitischen Vorfällen gekommen wäre. Noch 2003 stellte ein Bericht der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit fest, das Land sei seit Ende des Zweiten Weltkriegs »frei von antisemitischen Erscheinungen«. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Spätestens seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist der Hass auf Juden und den jüdischen Staat auch eine luxemburgische »neue Normalität«.
Seit 2017 erfassen und dokumentieren Bernard Gottlieb und seine Organisation RIAL (»Recherche et information sur l’antisémitisme au Luxembourg«) judenfeindliche Vorfälle. Im Bericht von 2023 lässt sich nachlesen, dass alle Pathologien, die in den Nachbarstaaten Deutschland, Belgien und Frankreich seit Jahren endemisch sind, sich auch im Großherzogtum eingerichtet haben: Die mediale Dämonisierung Israels als »Nazistaat«, Aufrufe zum Boykott israelischer Produkte und Institutionen, klassische Ritualmordvorwürfe (»Israel Kindermörder«), Schüler, die Hitler bewundern. Auf Demonstrationen wird zur Vernichtung des jüdischen Staates aufgerufen, Aufkleber mit klassisch antisemitischer Symbolik verschandeln den öffentlichen Raum, die Hamas-Morde werden verherrlicht.
Propalästinensische Demonstrationen in Luxemburg sind, nicht anders als in Brüssel, Berlin oder Paris, häufig Manifestationen junger Aktivisten, die sich kein Ende der Krieges, sondern einen finalen Sieg über den israelischen Feind wünschen. Und nicht anders als im restlichen Westeuropa sind die Treiber der neuesten antisemitischen Welle keine Rechtsradikalen, sondern Linke und Migranten. »Es gibt Einzelfälle, aber keine organisierte rechtsextremistische Bewegung. Die Fälle, die mir zugetragen werden, kommen meist von der radikalen Linken oder von Muslimen«, so Gottlieb im »Luxemburger Wort«. Vor allem Menschen aus arabischen Ländern und ehemalige Einwanderer aus Bosnien seien aktiv auf der Straße und in sozialen Netzwerken.
Seit dem 7. Oktober ist der Hass auf Juden auch eine luxemburgische »neue Normalität«.
Ari Marker* organisiert in der luxemburgischen Hauptstadt wöchentliche Mahnwachen für die Freilassung der israelischen Geiseln der Hamas. Er bestätigt Gottliebs Beobachtungen. Immer wieder komme es vor, dass Teilnehmer seiner Kundgebungen bedroht, bespuckt oder gefilmt werden. Diese Filme tauchten später in sozialen Netzwerken auf, nicht selten in Verbindung mit dem roten Dreieck der Hamas, das zum Mord aufruft. Anfang des Jahres wurden Kundgebungsbesucher sogar mit dem Messer bedroht. In diesem Fall wie auch bei den Anfeindungen in den sozialen Medien soll es sich um Zugewanderte gehandelt haben. Marker, der vor rund 20 Jahren aus Frankreich nach Luxemburg migrierte, spricht davon, dass Mitglieder der winzigen jüdischen Gemeinschaft immer häufiger die Sorge äußern, nicht mehr sicher zu sein. Ein Land, das ihm lange Zeit als »Paradies« galt, habe sich nach dem 7. Oktober in einen bedrohlichen Ort verwandelt.
Man könnte auch sagen, dass sich Luxemburg dem restlichen Westeuropa angepasst hat. Bei meinem letzten Besuch, der bereits einige Jahre her ist, schien meine Heimat auf eine schwer zu bestimmende Weise verändert. Die Denkmäler, die in Dankbarkeit für Soldaten wie Hyman Josefson und als Mahnung nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden waren, stehen weiterhin an Ort und Stelle. Die luxemburgischen Erinnerungsorte wurden in den vergangenen Jahren sogar beträchtlich erweitert. Gleichsam kam es mir vor, als würden die Gewissheiten der Nachkriegszeit einen ähnlichen Weg gehen wie unser Judd mat Gaardebounen: den des Vergessens.
*Der Name ist ein Pseudonym. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.