Es begann mit der Geschichte, die ihr der Großvater vor Jahren erzählte. Elysha Netsarh ist Dozentin an der Universität von Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars. In ihrem Zweitjob entwickelt die 40-Jährige pflanzliche Arzneistoffe für einen Pharmakonzern.
Derzeit beschäftigen die Botanikerin jedoch ganz andere Wurzeln: ihre eigenen. Netsarh wurde als Christin geboren – so wie die meisten Madagassen. Heute liest sie jeden Morgen Tora und feilt an ihren Hebräischkenntnissen. Offiziell konvertierte sie vergangenen Mai zum Judentum – gemeinsam mit 120 weiteren Madagassen.
Herkunft Die tropische Insel vor der afrikanischen Ostküste ist die Heimat einer kleinen, aber stetig wachsenden jüdischen Gemeinde. »Viele Madagassen sind sich ihrer jüdischen Abstammung bewusst und haben beschlossen, die Religion ihrer Vorväter zu leben«, sagt Netsarh.
Der bisher bedeutendste Moment der jungen Gemeinde sei der Besuch von drei orthodoxen Rabbinern aus den USA gewesen. Im Hotel »Le Pave« in der Hauptstadt versammelten sich die neuen Juden vor dem einberufenen Beit Din, einem Rabbinatsgericht, um offiziell zum Judentum überzutreten. Es konvertierten Kleinkinder, Familienmütter und Greise.
Anschließend ging es für sie anderthalb Stunden über die Tropeninsel zum nächstgelegenen Fluss. Im Schatten der Mangroven und unter den Rufen exotischer Vögel tauchten sie dort in ihrer ersten Mikwe unter. Den Abschluss der Zeremonie bildete eine jüdische Hochzeit, in der zwölf Paare noch einmal heirateten, nach jüdischer Tradition.
geschichte Juden auf Madagaskar – bei Historikern weckt dies böse Erinnerungen. 1940 wollte das Nazi-Regime etwa vier Millionen europäische Juden in die ehemalige französische Kolonie verschiffen. Berlin sah den »Madagaskar-Plan« als Teil seiner »Endlösung«. Doch scheiterte das perfide Vorhaben. Dass das Judentum jetzt ausgerechnet auf dem afrikanischen Eiland blüht, bezeichnen Beobachter als Ironie.
William F.S. Miles, Politologe an der Northeastern University in Boston, besuchte vor zwei Jahren Madagaskar. Nach normativen Standards könne man nur die Konvertierten als Juden bezeichnen, sagt er. »Doch zieht man eine talmudische und rabbinische Definition des Judentums heran, schätze ich die Zahl der Juden Madagaskars auf mehrere Hundert.«
Noch steht die jüngste jüdische Gemeinschaft der Welt vor Herausforderungen. Ein Rabbiner und eine Synagoge fehlen. Stattdessen setzen die Mitglieder auf den Rat von drei spirituellen Führern, die sich ihr Handwerk größtenteils selbst angeeignet haben: Einer von ihnen ist Programmierer, ein anderer Kantor, und der Anführer war früher Pastor einer evangelischen Kirche.
Auch die Sprache trennt viele madagassische Juden noch von ihrer Religion. Amtssprache auf der Insel ist Französisch, die meisten sprechen die Stammessprache Malagassi. Religiöse Texte sind für viele selbst in der offiziellen Landessprache schwer zu verstehen, geschweige denn auf Englisch. Das beherrschen neben Netsarh nur wenige Gemeindemitglieder. Die Akademikerin arbeitet deshalb an der Übersetzung eines Gebetbuchs.
Auch die Kaschrut bereitet madagassischen Juden bislang Schwierigkeiten. Einige aßen bisher ausschließlich Fisch oder ernährten sich vegetarisch. Vergangenes Jahr lernten sie von Rabbinern aus Israel, wie man Geflügel schächtet. »Dank der Zertifikate, die uns die Rabbiner ausstellten, können wir jetzt auch Hühner essen«, so Netsarh.
Gebetet wird im Apartment von einem der drei Ältesten. Doch selbst das gestaltet sich schwierig. Denn viele wohnen weit entfernt, und das Autofahren am Schabbat ist verboten.
Ihre Entschlossenheit schöpfen Madagaskars Juden aus ihrer Abstammung. Die Geschichtsbücher wollen es, dass ihre Ahnen aus Indonesien kamen und später vom afrikanischen Festland. Doch die jüdische Gemeinde ist überzeugt, einer der verlorenen Stämme Israels zu sein. Netsarh zufolge stünden Madagassen dem Judentum näher als dem Christentum – »einer Religion von Fremden«, die nur dank der Kolonisation Einzug auf der Insel hielt. Die Jüdin erzählt von einem 78-jährigen Madagassen, der die Verfolgung durch die französischen Kolonialherren selbst miterlebt hat. Man zwang ihn und seine Freunde, traditionelle Bräuche und Sitten aufzugeben, um ein christliches Leben zu führen. Jetzt konvertierte er zum Judentum.
Wissenschaftlich konnte die jüdische Abstammung der Madagassen nie nachgewiesen werden. Die neuen Juden jedenfalls vermuten die Hinweise auf der ganzen Insel: ob hebräische Inschriften auf Grabsteinen oder die traditionelle Schlachtung, die eng mit jüdischen Riten verknüpft sei.
Armut Madagaskar ist eines der ärmsten Länder der Welt. Zwei Drittel der Einwohner müssen mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen. Die meisten Juden zählen wie Netsarh zur Mittelschicht. »Wir haben gerade genug, um gut leben zu können. Aber nur wenige schaffen es, etwas auf die Seite zu legen.« Im Dezember reiste die Madagassin durch die USA, um Spenden zu sammeln und Aufmerksamkeit für ihre junge Gemeinde zu wecken.
Unterstützt wurde sie dabei vom Verein »Kulanu«. Er wurde 1994 in New York gegründet und hilft jungen aufstrebenden jüdischen Gemeinschaften etwa in Afrika, Asien oder Südamerika. »Sie brauchen Information, Lehrer, Bücher und den Zuspruch von Rabbinern«, sagt Bonita Sussmann, Vizepräsidentin von Kulanu. Zudem müssten entlegene Gemeinschaften um die Anerkennung durch die übrige jüdische Welt kämpfen, allen voran in Israel.
»Im Laufe der Geschichte verschwand ein Teil des jüdischen Volkes als Folge von Krieg, Flucht oder Zwangsbekehrungen«, sagt Sussmann. Entsprechend habe der Verein den Namen »Kulanu« gewählt – »Wir alle«. Im Laufe der Jahre habe auch Kulanu einen Wandel durchgemacht. »Wir haben das Dasein als Missionare aufgegeben und suchen heute nicht mehr nach verlorenen Stämmen.« Stattdessen warte man darauf, dass die Gemeinden per Internet selbst Kontakt aufnehmen. Inzwischen kommen fast wöchentlich Anfragen wie jüngst von einer Tropeninsel in Afrika.