Seit dem 1. Januar ist das Vereinigte Königreich nach eigenem Willen wieder ein »unabhängiger Küstenstaat« und hat keine Anbindung mehr zur Europäischen Union. Kurz vor Ende des vergangenen Jahres wurde endlich ein Freihandels- und Kooperationsabkommen ausgehandelt.
Für Rabbi Mordechai Fhima ist die Übereinkunft kaum ein Trost. Der 52-Jährige amtiert in der Londoner Anshei-Shalom-Synagoge, der einzigen französischsprachigen jüdischen Gemeinde in Großbritannien. »Seit dem Brexit-Referendum habe ich einen beträchtlichen Teil meiner Gemeinde verloren«, klagt der Rabbiner. »Viele Mitglieder haben Großbritannien verlassen und sind auf den Kontinent zurückgekehrt.«
Finanzsektor Viele Jahre lang profitierte Fhimas Gemeinde vom Zuzug jüdischer Franzosen, die im Londoner Finanzsektor gute Jobs fanden. Doch jetzt hat es für viele keinen Sinn mehr, in London zu bleiben, denn sie dürfen nicht mehr mit Klienten in der EU arbeiten. Das Handelsabkommen hat daran nicht viel geändert.
»Das Schlimmste ist, dass ich nicht mehr damit rechnen kann, neue Gemeindemitglieder zu bekommen«, sagt Fhima. Von denen, die geblieben sind, haben sich einige um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung gekümmert. »Aber es ist so schade«, sagt Fhima, »Großbritannien war doch ein Teil von Europa!«
»Viele Gemeindemitglieder sind auf den Kontinent zurückgekehrt.«
Rabbi Mordechai Fhima
Einige Synagogenmitglieder beschwerten sich nun über die neuen notwendigen Formalitäten zum Import und Export von Waren, erzählt er: »Doch zum Glück gibt es die Eurostar-Bahnverbindung zwischen London und Paris weiterhin!« Ohne einen Deal hätte es dazu kommen können, dass die Strecke bis zu einem Übereinkommen nicht befahren wird.
»Ich war erst letzte Woche in Paris bei einer Barmizwa, mitten im Lockdown«, erzählt Fhima etwas heiterer. Wegen des Brexits habe ihm da niemand Probleme gemacht. Das Einzige, worauf es ankam, war, dass er einen negativen Corona-Test vorlegen konnte.
EU-Pässe Etliche jüdische Briten haben Eltern oder Großeltern, die vor Jahrzehnten als Flüchtlinge nach Großbritannien kamen. Viele von ihnen, darunter auch einige Hochbetagte der ersten Generation, haben sich nach dem Brexit-Referendum um die zusätzliche Staatsbürgerschaft eines EU-Landes gekümmert.
William Baginsky, der am nördlichen Londoner Stadtrand wohnt, bewarb sich schon 2016 um die deutsche Staatsbürgerschaft für die gesamte Familie. Im Jahr darauf hat er sie erhalten. »Sie wird vor allem meinen Kindern und Enkeln helfen«, hofft der 69-Jährige.
Er verstehe nicht, warum Großbritannien allein sein wolle, während Länder, die sich jahrhundertelang bekämpften, beschlossen haben, sich zu verbünden. Es stünden doch heute alle vor denselben Herausforderungen wie Gesundheit, Klima oder Ernährung. Er fragt sich, ob es vielleicht damit etwas zu tun haben könnte, »dass manche Briten den Kolonialismus noch nicht verarbeitet haben«.
staatsbürgerschaft Die deutsche Staatsbürgerschaft ist für Baginsky mehr als nur ein Pass. »Ich habe wiedererlangt, was meinen Eltern genommen wurde«, meint er. Sein Vater stammte aus der heute polnischen Stadt Olesno, dem ehemaligen oberschlesischen Rosenberg. 1939 flüchtete er nach Großbritannien, wo er Baginskys Mutter heiratete, die aus Wien geflohen war.
»Wegen des Brexits, aber auch wegen der Flüchtlingskrise und meiner Vergangenheit schätze ich die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes besonders«, sagt Baginsky.
Seine 42-jährige Tochter Charley – sie ist Rabbinerin in mehreren liberalen Gemeinden – betont, der deutsche Pass öffne ihren drei Kindern die Chance, in der EU zu leben und Zugang zu einem Teil ihrer Identität zu haben, sagt sie. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist ihre dritte. Neben der britischen hat sie auch die israelische.
antragsteller Doch nicht alle berechtigten britischen Antragsteller haben bereits die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. In Schottland wartet die 41-jährige Autorin Eleanor Thom, deren Großmutter Dora Tannenbaum ebenfalls aus Nazideutschland flüchten musste, noch auf die Genehmigung ihres Antrags. Auch für sie bedeute der deutsche Pass mehr, als nur Europäerin zu bleiben, betont sie.
Sie lernt seit einiger Zeit Deutsch und ist sich vor allem in einem sicher: »Sollte es eines Tages eine Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands geben, um auf diesem Weg wieder der EU beizutreten, dann werde ich ohne Zögern dafür stimmen.«
Etliche haben Eltern oder Großeltern, die vor Jahrzehnten als Flüchtlinge kamen.
Der Software-Entwickler Michael Grant hat es hingegen bereits geschafft: Seit September besitzt der 47-Jährige neben seinem britischen auch einen deutschen Pass. Grant zog vor einigen Jahren nach Berlin zu seiner damaligen Freundin, mit der er inzwischen verheiratet ist. Auch für ihn war der Brexit Hauptauslöser dafür, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen.
fremdenfeindlichkeit »Sollte eines Tages innerhalb der Europäischen Union eine fremdenfeindliche Politik aufkommen, wird es besser sein, einen EU-Pass zu besitzen und nicht nur einen Aufenthaltstitel.« In den vergangenen Jahren habe in England die Fremdenfeindlichkeit zugenommen, sagt Grant.
»Früher war Großbritannien für mich die Bastion liberaler Werte, und London war die Stadt jüdischer Diversität. Ich denke, inzwischen hat Deutschland diese Rolle übernommen.« Aus diesen Gründen verstehe er sich mehr als Deutscher.
Der Brexit habe ganz praktische Nachteile für ihn, erzählt er. So musste er eines seiner britischen Bankkonten aufgeben, und auch die Augenuntersuchungen, die er regelmäßig bei Besuchen in London machen ließ, seien für ihn jetzt nicht mehr kostenlos.
Formalitäten Für Shalom Schwartz, den Besitzer des koscheren Schokoladengeschäfts »Chocolate Fantasies« im ultraorthodoxen Stamford Hill, sind seit dem Abkommen die Sorgen verschwunden. Der 30-Jährige sagt, er habe Angst gehabt, es könne kompliziert werden mit den Zulieferungen aus Belgien und Frankreich.
Die Tatsache, dass es nun einen Deal gibt, sei gut für ihn, auch wenn er noch nicht wisse, ob mit den zusätzlichen Formalitäten die Lieferungen in Zukunft auch langsamer oder gar teurer werden. »Ich habe jede Menge Post von der Regierung erhalten, wie ich mein Geschäft auf die neuen Umstände vorbereiten kann«, erzählt er. »Vielleicht eröffnen sich ja sogar neue Märkte«, schwärmt er. Richtig nachgedacht habe er darüber aber noch nicht.
Auch Lance Forman ist froh über den Deal. Der 58-Jährige ist Geschäftsführer des traditionsreichen Familienunternehmens H. Forman & Son und verkauft Lachs. Er hält das Handelsabkommen für großartig. »Die ganze Debatte für und gegen den Brexit wird nun endlich vorbei sein«, schätzt er.
hakenkreuz Vor anderthalb Jahren wurde an die Wand seines Unternehmens ein großes Hakenkreuz geschmiert – wahrscheinlich, weil Forman einige Zeit Europaabgeordneter der Brexitpartei war. Vor einem Jahr, nach Boris Johnsons Wahlsieg, verließ er die Brexitpartei und wurde Mitglied der Konservativen.
Das Abkommen stehe für einen ungestörten Handel zwischen der EU und Großbritannien und eröffne zusätzlich die Möglichkeit, Handelsverträge mit Ländern außerhalb der EU zu schließen, sagt er.
Doch habe er noch nicht konkret darüber nachgedacht. »Mein Einsatz für den Brexit hatte nie etwas mit meinem Geschäft zu tun«, betont er. Für ihn zählten eher Kunden, die den Wert seiner Produkte steigern, Handelsabkommen mit neuen Märkten seien da nur »das Sahnehäubchen auf dem Kuchen«. Und was ist mit den zusätzlichen Formalitäten? »Kaum der Rede wert«, sagt Forman und winkt ab.
Bürokraten Über den Brexit freut sich auch ein jüdischer Umzugsunternehmer Mitte 60, der allerdings nicht möchte, dass sein Name in der Zeitung steht. Er wurde in Israel geboren und lebt seit den 80er-Jahren in London. Er nennt die EU einen »Verein von Kriminellen, dessen Bürokraten sich an armen Menschen bereichern«.
Seit dem 1. Januar muss er detaillierte Exportdeklarationen machen. »Britische Spediteure dürfen jetzt nur noch an einen einzigen Ort in der EU liefern und höchstens an einem einzigen anderen Ort Güter abholen. Das beweist, wie egal der EU die normalen, arbeitenden Menschen sind.«
Doch sei er sich sicher, dass Brüssel am Ende die Formalitäten wieder aufheben wird, da sie »allen, auch der EU, schaden«.
»Vielleicht eröffnen sich ja nun sogar neue Märkte.«
Shalom Schwartz, Unternehmer
Kalmon Hener, der in München geborene Direktor eines britischen Luxusgüterunternehmens, glaubt hingegen, dass die gemeinsame europäische Geschichte und Geografie keine allzu großen Hindernisse aufkommen lassen wird. »Es ist nur mehr Papierkram als bisher«, wiegelt der 54-Jährige ab. Die Importe und Exporte seines Unternehmens liefen ohnehin größtenteils über die Schweiz in die EU, das mache die Sache einfacher.
Ein bisschen mehr Organisation benötigt Hener jedoch für seinen Hund Max. Da der europäische Tierpass jetzt nicht mehr für Großbritannien gilt, muss Max’ Gesundheit künftig mindestens zehn Tage vor einer Reise in die EU von einem Tierarzt zertifiziert werden. Doch ansonsten sehe Hener dem Brexit sehr zuversichtlich entgegen.