Schweiz

Verkehrte Alija

Regelmäßig nahm Judith Pinchover an den Protesten gegen die israelische Justizreform teil. Die Sozialarbeiterin und vierfache Mutter konnte nicht einfach nur zusehen, wie diese Reform Israels Demokratie erodieren lassen sollte. Gerade weil sie als gebürtige Baslerin dieses Land so liebe, sei sie regelmäßig auf die Straße gegangen, sagt sie. »Als Schweizerin, die seit Längerem in Israel lebt, habe ich schon immer diese Ambivalenz gespürt, mich an beiden Orten zugehörig zu fühlen. Aber ich fühlte mich mit der Zeit angekommen in Israel.«

Durch die geplante Justizreform sei ihr stabiles, sozial gut eingebettetes Leben nordöstlich von Hadera jedoch ins Wanken geraten. Immer wieder hätten sie und ihr israelischer Mann Yishai sich gefragt, ob sie und die Kinder in einem Israel, das dabei sei, sich in den Abgrund zu manövrieren, noch eine Zukunft hätten. «Aber wir dachten nie ernsthaft darüber nach, wegzuziehen. Nur hin und wieder erwogen wir die Idee, wie es wäre, wenn die Kinder eine zweite Heimat in der Schweiz hätten.«

Mit den Hamas-Massakern an israelischen Zivilisten am 7. Oktober 2023 lag die Entscheidung dann plötzlich auf der Hand: Die Familie, die gerade auf Besuch in der Schweiz war, fühlte sich wie gelähmt. »Am Anfang des Krieges war es eine Sicherheitsfrage. Aber nach ein paar Wochen wurde mir zusehends klarer, dass ich nicht zurück nach Israel und damit nach Hause will.« Es sei ihnen überhaupt nicht leichtgefallen, alles hinter sich zu lassen. »Die Familie von Yishai, die Arbeit, die Freunde, das Haus in Pardes Channa-Karkur. Aber wir sahen im Kontext dieses Krieges, der die Gesellschaft noch mehr auseinanderbrechen lässt, und der aktuellen Politik keine Möglichkeit mehr, unser Leben weiterzuführen wie bisher«, sagt Judith. Sie sei sehr besorgt um Israel, gerade wenn sie daran denke, wie es nach dem Krieg weitergehen soll.

»Ein gewisses Maß an Unsicherheit gehört zum israelischen Leben dazu, auch in der Schweiz.«

Die Entscheidung, zunächst in der Schweiz zu leben, sei eine gemeinsame gewesen. Heute wohnen Judith, Yishai und ihre Kinder in Zürich-Wollishofen. Das Leben sei ein anderes, aber auch gut, wobei sie nun allerdings merke, dass sie nun einer Minderheit angehören. »Jüdisch zu sein, das ist in Israel nichts Besonderes, hier in der Schweiz wird es zum Thema.« Mit den Fragen »Wo gehöre ich hin?« und »Wo ist mein Zuhause?« setzt sich Judith Pinchover nicht erst seit dem 7. Oktober auseinander. »Aber der Angriff war eine heftige Zäsur. Davor hätte ich, die 15 Jahre in Israel gelebt hat, nie gedacht, dass ich den Schritt wagen und mich so schnell wieder in der Schweiz finden würde.«

Einen konkreten Plan, wie es weitergehen soll, gebe es nicht, bekennt Pinchover. »Nun sind wir einfach einmal da. Der Schritt hat uns gezeigt, dass wir als sechsköpfige Familie Flexibilität beweisen müssen und dies uns auch stärkt. Ein gewisses Maß an Unsicherheit gehört zu einem israelischen Leben dazu, auch wenn man es in der Schweiz führt.«

»Ich dachte, alles sei gut«

Als am 7. Oktober um 6 Uhr morgens die Sirenen losheulten, war das auch für Shlomit Avishai und Itay Golan der Anfang einer Reise ins Ungewisse. Nur wussten sie das noch nicht. Das schweizerisch-israelische Paar, das mitten in Tel Aviv lebte, weckte seine beiden Mädchen und begab sich binnen Sekunden ins Treppenhaus. »Wir wohnten in einem zweistöckigen Haus ohne Luftschutzkeller. Als nach einer Weile wieder Ruhe eingekehrt war und wir in die Wohnung zurückkonnten, dachte ich, alles sei gut«, erzählt die 38-jährige Shlomit.

Nicht für Itay. Ihm war klar, dass es diesmal anders sein würde – größer, schlimmer. »Wir müssen weggehen«, habe er schon im Treppenhaus gedacht. 24 Stunden später saß die Familie in einem Flieger nach Barcelona. Auf die Schnelle hatten sie keine Flüge mehr in die Schweiz bekommen.

Shlomits Eltern wohnen im bernischen Thun, darum sei klar gewesen, dass sie länger in der Schweiz bleiben würden. Aber bereits in Barcelona, wo die Familie schließlich für drei Wochen bei Freunden unterkam, mussten sie sich mit einem neuen, sonderbaren Gefühl auseinandersetzen: »In Israel fliegen dir die Raketen um die Ohren, und wie aus dem Nichts befindest du dich an einem Ort, wo ganz normaler Alltag stattfindet. Die Leute sitzen in Cafés, Menschenströme bewegen sich gemächlich durch die Straßen – es war wie Urlaub«, sagt Shlomit. Damit mussten sie beide erst einmal klarkommen. Denn gleichzeitig seien sie ja ständig mit Israel verbunden, läsen die Nachrichten und setzten sich konstant damit auseinander, was zu Hause passiert.

Für sie steht fest: »Unser Zuhause ist für die nächsten Jahre die Schweiz.«

»Es war die richtige Entscheidung zu gehen«, sagt der ebenfalls 38-jährige Itay. In Israel »waren wir zwar nicht in Lebensgefahr, aber sich in Europa sicher fühlen zu können, macht viel für mich aus«. Und der überall grassierende Antisemitismus? Shlomit, die einen Teil ihres Lebens in der Schweiz, den anderen in Israel verbracht hat, ist sich nicht sicher. Die ganzen Unruhen in Europa haben in ihren Augen mit der israelischen Politik zu tun, der das Paar sehr kritisch gegenübersteht. »Israel ist in gewisser Hinsicht sehr engstirnig.«

Mit der Haltung »Was auf der anderen Seite der Grenze geschieht, geht uns nichts an« habe die Künstlerin und Lehrerin sowie Tochter einer Schweizer Mutter und eines israelischen Vaters große Mühe. Ihr Mann pflichtet ihr bei, Israel sei sehr gut in Taktik, jedoch weniger erfolgreich in Langzeit-Strategie. »Für das Danach gibt es selten einen Plan«, womit er die Situation im Gazastreifen anspricht, die ihm sehr zu schaffen macht.

Optimismus verloren

Er habe seinen Optimismus verloren, was Israel betreffe. »Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der es für Israel und die Palästinenser sehr viel Hoffnung gab. Aber davon ist nicht mehr viel übrig.« Es habe die beiden, vor allem aber Itay, wenig Überwindung gekostet, die Zelte in Tel Aviv abzubrechen. Im Winter seien sie mit ihren kleinen Kindern noch einmal nach Israel gereist, um ihre Wohnung aufzulösen. Am 31. Dezember, als sie mit Freunden und Familie bei einem Abschiedsfest gleichzeitig den Jahreswechsel und Shlomits Geburtstag feierten, musste die Partygesellschaft bei Sirenenalarm wieder ins Treppenhaus flüchten.

Seitdem sei der Blick nur noch nach vorn gerichtet. Für Itay, der mittlerweile bei einer großen Beratungsfirma arbeitet, hat dieser Wechsel mit Anpassungsfähigkeit zu tun. Auch Shlomit beginnt, sich mittlerweile an das neu-alte Leben in der Schweiz zu gewöhnen. »Ich liebte das Leben in Tel Aviv. Es war einfach.« Die Herausforderungen des neuen Alltags ermüden die Mutter manchmal, die nun wieder als Lehrerin arbeitet. Doch auch für sie steht fest: »Unser Zuhause ist für die nächsten Jahre die Schweiz.« Und bald zieht das Paar Avishai-Golan in eine feste Wohnung. In der Hoffnung, dort richtig anzukommen.

Innerlich noch nicht wirklich angekommen sind Stefan und seine Frau. Ihren Namen möchten sie nicht preisgeben. Sie stammt aus Israel, Stefan aus der Schweiz. Mit ihren zwei kleinen Kindern leben sie heute in Zürich-Wiedikon. Auch diese Familie ist nach dem 7. Oktober über Umwege in die Schweiz gereist. »Direkte Flüge nach Zürich waren binnen weniger Minuten ausgebucht. Also versuchten wir es über die in dem Moment einzig verfügbare Alternative Marrakesch. Daraus wurde Mailand, und so sind wir am Schluss mit der Bahn in die Schweiz gefahren«, erzählt Stefan.

Die Reise sei extrem anstrengend gewesen: Raketenalarm und eine Massenpanik am Flughafen Ben Gurion. »Und wenn du dann mitten in der Nacht mit zwei kleinen, halb kranken Kindern am Mailänder Bahnhof stehst und nicht weißt, ob dein normales Leben, das du bis vor 48 Stunden noch hattest, je wieder so sein wird, dann schüttelt dich das einmal richtig durch«, beginnt die Frau zu erzählen.

Sie ist dankbar, heute in Zürich leben zu können, aber »in Israel hatte ich ein Leben«. Es ist eine Aussage, die viel Ungesagtes zwischen den Zeilen deutlich macht. Denn auch, wenn sie den Anschluss an die jüdische Gemeinde und an die Freunde von früher gefunden hat, fühlt sie sich hier nicht wirklich zu Hause. Allerdings sei »die Welle der Hilfe, die uns in den ersten Wochen entgegenschwappte, unbeschreiblich. Zum Beispiel, als es kalt wurde und wir Kleider für die Kinder erhielten. Wir sind ja mit einem Koffer und ein paar T-Shirts angekommen«, erinnert sie sich. Schließlich habe sie gedacht, dass sie nur ein paar Wochen bleiben würden.

»Die Welle der Hilfe, die uns in den ersten Wochen entgegenschwappte, war unbeschreiblich.«

Stefan winkt ab. Für ihn sei schon länger klar gewesen, dass es langfristig für sie als junge Familie in Israel wenig Perspektive gebe. Er hatte vor einigen Jahren Alija gemacht und sich eine Zukunft voller Optimismus vorgestellt. Damit war irgendwann Schluss. Nicht nur die Politik, auch die demografischen und die geopolitischen Entwicklungen bereiteten ihm Sorge, so Stefan. »Wir wollten einfach nur dem Krieg entkommen. Deshalb verließen wir Knall auf Fall das Land – und unser Zuhause«, sagt seine Frau nachdenklich. Der Widerspruch, das Wechselbad der Gefühle sind in ihren Worten spürbar. Auf der einen Seite ist da dieses Verlangen nach dem alten Leben, der gewohnten Routine in einem gewohnten Umfeld, auf der anderen Seite die aufrichtige Dankbarkeit, an einem sicheren Ort zu sein.

Aber nun sind sie hier

Aber »als jemand, der nicht typisch Schweizerisch aussieht«, weiß sie oft nicht, was sie antworten soll, wenn sie zum Beispiel auf dem Spielplatz gefragt werde, woher sie komme. Zu groß sei die Angst vor antisemitischen Attacken. »In der Öffentlichkeit versuche ich, sehr zurückhaltend zu sein, wenn ich Hebräisch spreche.« Stefan sieht es gelassener, doch er ist hier zu Hause. »Wir haben Glück, mithilfe von Freunden so schnell eine schöne Wohnung gefunden zu haben, und dass wir nicht allein sind.«

Seine Frau nickt, aber mit dem Einwand, dass sie sich diese Situation nicht ausgesucht habe. Für die Kinder sei es auch nicht einfach. »Wenn dein dreijähriger Sohn abends zu dir kommt und dich fragt: ›Mama, wo ist zu Hause?‹, dann kommen mir schnell die Tränen.« Ohnehin habe sie in letzter Zeit viel weinen müssen, auch weil sie Nichten und Neffen habe, die in den Krieg ziehen mussten.

Die nahe Zukunft in der Schweiz scheint also konkreter zu sein? Für Stefan ist die Sache klar, für seine Frau weniger – aber nun sind sie hier.

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