Als Tony Blair nach seinem großen Wahlsieg am 2. Mai 1997 in der Downing Street ankam, wurde er bei strahlendem Sonnenschein von Hunderten jubelnder Anhänger empfangen.
Ein solcher Empfang wurde Keir Starmer am Freitag nicht zuteil, obwohl auch er einen spektakulären Wahlerfolg eingefahren hatte wie Blair: Kam Letzterer 1997 auf 418 der 650 Mandate im Unterhaus, errang Starmers Labour Party am Donnerstag 412 Sitze.
Doch dass der frisch ernannte Premierminister keinen großen Bahnhof bekam, lag wohl nicht nur am strömenden Regen in London. Starmer wollte ihn wohl absichtlich nicht. Lieber machte er sich gleich an die Arbeit. Im Wahlkampf hatte der 61-Jährige bewusst nicht auf Charisma und große Versprechungen gesetzt, sondern auf Nüchternheit und eine Politik der ruhigen Hand. Er hatte damit bei vielen Langeweile verbreitet.
Das entspricht jedoch Starmers Naturell. Er ist kein Mann großer Worte. Es ist aber wahrscheinlich genau der Stil, den eine Mehrheit der Briten nach den politischen Turbulenzen der letzten Jahre, vor allem dem Brexit, und nach vier konservativen Premierministern in nur fünf Jahren, sich von ihrem Regierungschef erhoffen.
Der Wahlsieg Labours war in erster Linie eine Niederlage: die der Konservativen Partei. Weniger als halb so viele Wähler wie noch 2019 stimmten für die Tories. Ehemalige Stammwähler bevorzugten die rechtspopulistische Reform UK von Brexit-Aktivist Nigel Farage, die viele Stimmen gewann, aber nur vier Mandate.
Labour hingegen legte nur 1,7 Prozentpunkte zu, kam landesweit auf einen Anteil von knapp 35 Prozent und verlor wegen der niedrigen Wahlbeteiligung sogar ein paar Hunderttausend Stimmen im Vergleich zu 2019. Dennoch errangen die britischen Sozialdemokraten damit nun 64 Prozent der Sitze im Unterhaus.
Der Grund ist das britische Mehrheitswahlrecht: Es spricht dem oder der jeweils Erstplatzierten in den 650 Wahlkreisen das Mandat zu, alle anderen Bewerber gehen leer aus.
In der Regel haben kleinere Parteien und Newcomer es deswegen schwer, sich durchzusetzen. Doch auch das war dieses Mal anders. Zahlreiche Wahlkreise konnten von Bewerbern gewonnen werden, die keiner der beiden großen politischen Formationen angehörten. So gewann Jeremy Corbyn, Starmers Vorgänger als Labour-Chef, der nach dem Antisemitismusskandal aus der Unterhaus-Fraktion ausgeschlossen worden war und nun erstmals als unabhängiger Kandidat antrat, seinen seit 1983 gehaltenen Wahlkreis Islington erneut klar.
Verluste bei muslimischen Wählern
Auf den Oppositionsbänken werden weitere Unabhängige Corbyn Gesellschaft leisten. Darunter sind auch radikale muslimische Abgeordnete, die mit einem einzigen Thema Wahlkampf gemacht hatten: Israels Krieg gegen die Hamas in Gaza. In Wahlkreisen mit großem muslimischem Bevölkerungsanteil, vor allem im Norden Englands, brachte ihnen das Zustimmung.
Mehrere Labour-Abgeordnete verloren dort ihre Parlamentsmandate und damit auch die Chance auf ein Ministeramt in der neuen Regierung. Selbst muslimische Bewerber der Labour Party wie Naz Shah oder Jess Philips, die in den vergangenen Jahren durch eine propalästinensische Haltung aufgefallen waren, sahen sich im Wahlkampf schweren Anfeindungen von islamistischen Aktivisten ausgesetzt. Ein Grund war auch Starmers ausgewogene Haltung zum Nahostkonflikt, die bewusst mit der Corbyns kontrastierte.
Beide Frauen verteidigten aber ihre Wahlkreise. Hingegen verlor im Stimmkreis Leicester South »Schattenkabinettsmitglied« Jonathan Ashworth seine Mehrheit von mehr als 22.000 Stimmen. Einer Statistik der BBC zufolge büßte Labour deswegen in Gegenden mit einem muslimischen Bevölkerungsanteil von mehr als einem Zehntel 11 Prozentpunkte im Vergleich zum Ergebnis von 2019 ein.
Der israelfeindliche und offen antisemitisch auftretende linke Politiker George Galloway, der vor einigen Wochen in seinem nordenglischen Wahlkreis Rochdale noch eine Nachwahl gewonnen hatte, konnte sein Mandat nicht verteidigen. Galloway verlor den Wahlkreis an die Labour Party - sehr zur Freude vieler in der jüdischen Gemeinschaft.
In anderen Wahlkreisen verlor hingegen Labour Stimmen linker Wähler an die Grünen. Diese hatten ebenfalls im Wahlkampf versucht, unter anderem mit scharfer Kritik an Israel zu punkten. In der Universitätsstadt Bristol gewann die grüne Co-Vorsitzende Carla Denyer einen Sitz.
Zum Teil vermochte die Labour-Partei ihre Verluste am linken Rand durch Zugewinne in Schottland und auch in Wahlkreisen mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil wettzumachen. So gewann die jüdische Kandidatin Sarah Sackman den Wahlkreis Finchley and Golders Green im Londoner Norden, in dem viele Juden leben. Lange Zeit war die Gegend eine Hochburg der Konservativen gewesen und wurde bis in die 90er Jahre hinein von Margaret Thatcher im Parlament vertreten.
Auch in Bury im Großraum Manchester, wo viele Juden leben, und im Großraum Birmingham eroberte Labour zahlreiche Sitze. Einer vor der Wahl durchgeführten Umfrage zufolge tendierten jüdische Wähler überproportional zu Labour. Die Partei hat, so scheint es, die Zeiten von Corbyn endgültig hinter sich gelassen.
Starmers jüdische Mischpoke
Im Wahlkampf spielte am Rande auch die Tatsache, dass Keir Starmers Frau Victoria jüdisch ist und der Labour-Chef den Beginn des Schabbats im Kreise seiner Familie zu verbringen pflegt, eine Rolle. Starmer hatte am Montag in einem Radiosender erklärt, dass er freitags ab 18 Uhr nicht mehr arbeite, um Zeit mit seinen Kindern zu verbringen. Die beiden Kinder des Paares sind noch nicht volljährig und werden von Victoria Starmer in der jüdischen Tradition erzogen.
Großbritanniens Oberrabbiner Ephraim Mirvis gratulierte Keir Starmer denn auch umgehend und sehr herzlich zu seinem Wahlerfolg. Auf der Plattform X schrieb Mirvis über den neuen Premierminister: »Er übernimmt das Amt der nationalen Führung in einer kritischen Zeit, in der unsere zerbrechliche Welt von Polarisierung, Extremismus und Konflikten bedroht ist. Möge er diesen Herausforderungen mit Weisheit und Mitgefühl begegnen, und möge seine Regierung allen Bürgern unseres großen Landes den Segen von Wohlstand, sozialem Zusammenhalt und Sicherheit bringen.«
Ob der Oberrabbiner auch die abgewählten Konservativen in seine Wünsche einschloss, ist nicht bekannt. Zahlreiche Kabinettsminister des scheidenden Premierministers Rishi Sunak, der die Neuwahl des Parlaments überraschend bereits vor der Sommerpause angesetzt hatte, verloren ihre Mandate im Unterhaus.
Darunter waren nicht nur Sunaks Vorgängerin, die Kurzeit-Premierministerin Liz Truss, sondern auch der (jüdische) Verteidigungsminister Grant Shapps und die als mögliche Sunak-Nachfolgerin gehandelte Fraktionsvorsitzende der Konservativen, Penny Mordaunt. Und auch der erzkatholische Brexit-Befürworter Jacob Rees-Mogg verlor seinen Sitz.
Wie lange es dauern wird, bis sich die Tories von diesem Wahlergebnis erholen, ist unklar. Jedenfalls hatten sie einen rabenschwarzen Tag.