Straßburgs ursprüngliches jüdisches Viertel liegt nordöstlich des Innenstadtrings und erstreckt sich nördlich der Synagoge bis zum Boulevard Clemenceau. Mittlerweile reicht es weit gen Osten, bis zum Boulevard de la Marne. Dort ist dienstags Wochenmarkt, und dort, wo der Boulevard den Antwerpener Ring kreuzt, steht quer zur Straße ein Marktstand. Er gehört einem Sympathisanten des rechtsextremen Front National (FN). Juden kaufen dort nicht ein.
Indessen gibt es Juden in Frankreich, die eine künftige FN-Präsidentin Marine Le Pen für das kleinere Übel halten. Schlimmer als der Front National erscheinen ihnen die Islamisten im Land. Der FN immerhin spricht Tacheles: Er will den »radikalen Islamismus in Frankreich ausradieren«. Und was den Rechten in die Karten spielt: Die Linksradikalen drohen damit, die Beschneidung zu verbieten und die Schechita, das rituelle Schlachten, gleich mit.
Terror Es bröckeln zur Zeit einige Gewissheiten, gerade in Frankreich, wo die Sorge vor dem Terror nicht nur in Paris ständiger Begleiter und arabischer Alltagsrassismus nicht nur in den Vorstädten virulent ist. Seit 2006 haben rund 40.000 Juden das Land verlassen und sind nach Israel ausgewandert, im Rekordjahr 2015 waren es 7900, vergangenes Jahr etwa 5000.
Nun könnte eine rechtsextreme Präsidentin Le Pen auch noch das Tragen der Kippa in der Öffentlichkeit verbieten. Neu ist das nicht, in Frankreich wissen sie davon schon länger – der Front National fordert die Verbannung jeglicher religiöser Symbole aus der Öffentlichkeit und an Schulen.
Anfang Februar gab Marine Le Pen dem israelischen Fernsehender Arutz 2 ein Interview und umgarnte darin staatsmännisch die Juden. Sie sprach von einer »gefährlichen Lage der Juden in Frankreich«, und im »gemeinsamen Kampf gegen den radikalen Islam« müssten alle ein Opfer bringen, auch die Juden: Sie sollten auf die Kippa verzichten – ein Hut täte es doch auch.
»Das ist absurd«, sagt Peter Honigmann, der frühere Leiter des Heidelberger Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, der seit 33 Jahren in Straßburg lebt. »Im Mittelalter sollten Juden unbedingt ein Erkennungszeichen tragen, jetzt sollen sie sich unbedingt unkenntlich machen.« Er persönlich gehe nie mit Kippa auf die Straße, sagt Honigmann, er habe immer eine Mütze oder einen Hut auf. Und trotzdem erkenne man ihn als Juden. »Den Juden zu sagen, sie sollen sich unkenntlich machen, ist ungefähr so, als ob man Schwarzen sagt, sie mögen bitte dafür sorgen, nicht mit ihrer Hautfarbe aufzufallen.«
Drohung Im Fernsehsender France 2 sagte Le Pen vergangene Woche, wenn sie Präsidentin werden sollte, werde sie auch die Doppelstaatsbürgerschaft kassieren. Spitzfindig erläuterte sie, das richte sich keineswegs gegen Juden: »Nicht die Juden, sondern die Israelis bitte ich, sich für eine Nationalität zu entscheiden.«
Seither entfaltet die durch Drohungen vergiftete Umarmung ihre Wirkung. Das kommt an bei den Wählern, auch bei manchen jüdischen. Anfang 2015, im Vorfeld der Départementswahlen, bei denen der Front National im ersten Wahlgang mit 28 Prozent der Stimmen Konservative und Sozialisten abhängte, hatte Le Pen nahezu wortgleich von der »Gefahr für Juden« gesprochen und die jüdische Gemeinde aufgerufen, »aufseiten jener zu kämpfen, die sich über die Gefahren islamistischen Fundamentalismus im Klaren sind«.
Damals hatten vereinzelt Juden auf Listen des FN kandidiert. In einer Studie von 2012 bekannten sich 13 Prozent der jüdischen Wähler offen zum FN, die Argumente waren damals schon dieselben: Gefährlicher sei der »Linksislamismus«, der FN wolle die Einwanderung stark beschränken und staatliche Zuschüsse für den Bau von Moscheen streichen.
Wähler Jean-Richard Sulzer, jüdischer Regionalrat des FN im Kreis Nord-Pas-de-Calais an der Grenze zu Belgien, zeigte sich 2015 optimistisch: »Durch den Terror werden sich auf jeden Fall viel mehr Wähler für uns entscheiden.« Sulzer rechnete damals damit, dass es künftig bis zu 30 Prozent der jüdischen Wähler sein könnten. Inzwischen firmiert der 69-Jährige als Marine Le Pens Wirtschaftsberater.
Kai Littmann, Gründer und Chefredakteur der zweisprachigen Online-Tageszeitung Eurojournalist/e mit Sitz in Straßburg, nennt einen weiteren Grund für die Attraktivität des FN: »Wie die AfD in Deutschland bietet der FN in Frankreich die Möglichkeit, ohne große politische Erfahrung Karriere zu machen.«
Im ländlichen Elsass erhält der FN traditionell hohen Zuspruch, die Universitätsstadt Straßburg hingegen ist auch 2017 unverändert eine Hochburg der Sozialisten. Schwierig, sagt Littmann, sei es indes, »eine kohärente politische Linie in der jüdischen Community auszumachen«. Aber: »Die Angst ist greifbar.«
Bäckerei Allerdings, und davon kündet eine weitere Anekdote aus Straßburgs jüdischem Milieu, auch das Böse wird immer wieder aufs Neue überwunden. Auf dem Boulevard de la Marne, unweit des Antwerpener Rings, gibt es seit Langem eine Boulangerie. Der frühere Besitzer war den Juden im Viertel nicht wohlgesonnen, das ließ er sie spüren, und so mieden die Juden die Bäckerei.
Mit dem Bäcker nahm es kein gutes Ende, er erhängte sich in der Backstube. Sein Nachfolger, Bäcker Keil, hat immer schon ab Donnerstag Pain au pavot, Mohnbrot, im Sortiment. Lange vor Eingang des Schabbats sind die Challot bereits ausverkauft.