Da wäre zum Beispiel Vidin, eine bulgarische Kleinstadt an der Donau. Im 13. Jahrhundert siedelten hier die ersten Juden aus Italien und Byzanz. Im Mittelalter folgten Flüchtlinge aus Ungarn und Spanien und ließen sich in dem Donaustädtchen nieder. Vidin war bis ins 19. Jahrhundert eine belebte Hafenstadt mit einer großen jüdischen Gemeinde. Kaufleute betrieben regen Handel innerhalb des Osmanischen Reiches und darüber hinaus. Es gab in Vidin fünf Synagogen, eine davon war die größte in ganz Bulgarien. Ihre Architektur war angelehnt an die der Großen Synagoge in Budapest. Die Ornamente hatten transsylvanische und ungarische Holzkunsthandwerker geschnitzt, die Kronleuchter kamen aus Wien.
Gras Heute bietet die Synagoge ein furchtbares Bild: Zerfallen, das Dach eingestürzt, die Fenster sind leere Höhlen, im Gebetsraum wuchert Gras. Von dem einstigen vielfältigen jüdischen Leben der Stadt ist fast nichts geblieben. Der jüdische Friedhof, mit Gräbern zum Teil aus dem 18. Jahrhundert, ist zerstört. Die Grabsteine sind umgefallen, zersprungen die Porzellanporträts der Toten. Vidin ist einer der eindrücklichsten Orte, an denen sich die Geschichte der einst blühenden jüdischen Gemeinden in Bulgarien und deren Untergang ablesen lässt.
Auf die Suche nach den Spuren jüdischen Lebens haben sich die Journalisten Dimana Trankova und Anthony Georgieff in ihrem englischsprachigen A Guide to Jewish Bulgaria begeben. Entstanden ist ein Handbuch, das akribisch die Fundorte des jüdischen Erbes auflistet und die dazugehörige Geschichte erzählt. »Bulgarien ist das einzige Land Europas, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg mehr Juden lebten als vorher«, sagt Georgieff. »Aber wo sind diese Menschen heute? Was ist mit ihrem Erbe passiert?«
Diesen Fragen auf den Grund zu gehen, war das Anliegen der Autoren. Dafür liefern sie fundierte und übersichtliche Informationen mit Hintergründen aus der Geschichte der bulgarischen Juden von der Antike bis heute. Einen außergewöhnlichen Stellenwert nimmt die sogenannte Rettung der bulgarischen Juden ein. Die Anfang des vergangenen Jahrhunderts noch rund 48.000 Menschen zählende jüdische Gemeinde wurde von der mit Nazi-Deutschland alliierten bulgarischen Regierung nicht ausgeliefert. Die Juden im Land überlebten den Holocaust – eine Tatsache, die im Ausland weitgehend unbekannt ist.
Doch dem Krieg folgte die Massenauswanderung nach Israel. Es begannen die Jahrzehnte des Vergessens und Vernachlässigens. Unter den Kommunisten wurden zahlreiche Synagogen in Lagerhäuser oder Sporthallen umfunktioniert. In vielen Städten verlegte man jüdische Friedhöfe, um Bauland zu gewinnen. Viele Gräber sind für immer verschwunden.
Schwimmbad In Stara Zagora stehen vor dem öffentlichen Schwimmbad einige jüdische Grabsteine, die gerettet werden konnten, als die Stadt in den 50er-Jahren an der Stelle des Friedhofs einen Industriekomplex baute. Die Jugendlichen, die heute oft auf den Steinen sitzen, rauchen und Bier trinken, wissen nichts über die Herkunft der Grabmäler. »Wahrscheinlich römisch«, lautet ihre Antwort auf die Frage der Autoren.
Das Buch ist aber auch eine Geschichte des Findens und Wiederentdeckens. Um die Fundorte in den insgesamt 14 Städtekapiteln zusammenzutragen und dazu einen Überblick über die jüdische Geschichte in Bulgarien zu verfassen, mussten die Autoren zum Teil detektivische Arbeit leisten. Denn es gibt kaum schriftliche Dokumente. Viele Orte entdeckten Georgieff und Trankova durch Zufall, mithilfe von Google Maps oder durch hartnäckiges Befragen der Bewohner. Interessierte wären kaum in der Lage, diese Orte auf eigene Faust zu finden. Deswegen ist das Buch ein erstaunlicher und durch die vielen detailreichen und bezaubernden Fotografien sinnlicher Wegweiser durch ein kaum erzähltes Kapitel europäisch-jüdischer Geschichte.
Anthony Georgieff und Dimana Trankova: A Guide to Jewish Bulgaria. Vagabond Media, Sofia 2011, 168 S., 27,50 €
www.vagabond.bg/jewishbulgaria