Als jüdischen Künstlern nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer verwehrt wurde, reagierte Heinrich Tischler (1892–1938) eigenwillig ironisch. Der Maler, Grafiker und Architekt zeichnete sich in der Nase bohrend. »Meine Beschäftigung im Juni 1934« überschrieb er das Selbstporträt. Diese und andere nach 1933 geschaffene Karikaturen sowie weitere Arbeiten des Künstlers sind zurzeit in der Ausstellung »Verfolgte Kunst« in Breslau (polnisch: Wroclaw) zu sehen.
Nach einer langen Odyssee kehrten damit etwa 100 Werke von Heinrich Tischler an den Ort zurück, von dem aus sie seine Frau einst ins Exil mitnahm. Die Schau soll zur Wiederentdeckung des bislang eher unbekannten Künstlers und seines Breslauer Kreises beitragen, sagt Johanna Brade. Sie ist Kunsthistorikerin am Schlesischen Museum zu Görlitz, das heute den größten Teil des Nachlasses von Tischler bewahrt. Für die Ausstellung in Kooperation mit dem Breslauer Stadtmuseum hat sie einen repräsentativen Querschnitt aus dessen vielfältigem Schaffen ausgewählt – gewissermaßen als Görlitzer Beitrag zum Kulturhauptstadtjahr 2016 in der polnischen Metropole.
stil Tischlers Werke haben »expressive Kraft«, findet Brade. Ausstellungsbesucher sind fasziniert und wundern sich, dass sie noch nie etwas von dem Künstler gehört haben. Sein Stil erinnert manchen an Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach.
Tatsächlich studierte Tischler an der renommierten Breslauer Akademie. »Er war sehr fleißig«, erzählt Brade. Als Architekt entwarf er beispielsweise Inneneinrichtungen für Geschäfte, etwa für den Kaufhausbau von Erich Mendelsohn im Zentrum von Breslau.
Nach der Pogromnacht im November 1938 wurde Tischler verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Einen Monat später wieder entlassen, starb er bald darauf im jüdischen Krankenhaus von Breslau an einer Sepsis. Seine Frau Else emigrierte mit den beiden Söhnen nach England. »Dabei rettete sie auch das künstlerische Lebenswerk ihres Mannes nach London«, berichtet Johanna Brade.
Nachlass Ende der 60er-Jahre wurde der Kasseler Kunstsammler Hans Peter Reisse durch Nachforschungen zur Breslauer Akademie auf Tischler aufmerksam. Er besuchte dessen Witwe in London und erwarb später einen Großteil des Nachlasses von ihr. Als Reisse 2001/02 seine gesamte Sammlung an das Schlesische Museum verkaufte, kamen auch die Werke Tischlers nach Görlitz. Mit der Ausstellung in Breslau hat sich nun ein Kreis geschlossen.
Der Schweizer Kunsthistoriker Andreas Meier unterstützte die Vorbereitung der Schau maßgeblich. »Der Kontakt zu ihm war sehr aufschlussreich, da er auf weitere 200 Werke Tischlers aufmerksam machte, auf die er in Israel gestoßen war«, sagt Johanna Brade. Der Kollege aus Bern stellte ihr seine Forschungsergebnisse zur Verfügung und half damit, manchen Aspekt im Werk Tischlers zu klären.
Netzwerk Meier engagiert sich beim Aufbau des Netzwerkes »memoriart33–45«. Der Verein in der Schweiz fördert die Herausgabe von Publikationen zu Kunstschaffenden, die während des Nationalsozialismus ums Leben kamen. Sichtbares Ergebnis der Arbeit ist mittlerweile eine Plattform im Internet, die im Frühjahr freigeschaltet wurde – mit derzeit etwa 250 Namen. »500 Biografien sollen dort demnächst stehen«, sagt Meier. Wichtigste Quelle dafür seien Veröffentlichungen regionaler Forscher.
Es gehe darum, Wege zu rekonstruieren, die Kunst im Emigrantengepäck um die halbe Welt genommen hat. »Noch viele Künstler verdienten es, wiederentdeckt zu werden«, sagt der Schweizer Kunsthistoriker. Er selbst hat seit 2011 Werke von Heinrich Tischler an drei Orten in Israel aufgespürt: im Tel Aviv Museum of Art, im Kunstmuseum des Kibbuz Ein Harod sowie in der Städtischen Galerie von Nahariya. Der Kern des Bestandes dort gehe auf die Sammlung eines Apothekers zurück, der rechtzeitig von Breslau nach Haifa emigrierte und ein Freund des Künstlers war. Tischlers Witwe gab später weitere Arbeiten ihres Mannes nach Nahariya.
Die Internetplattform hält Johanna Brade für gut geeignet, Forschungen voranzubringen und Spuren zusammenzuführen, wie es im Fall von Heinrich Tischler gelang. Um ihn stärker ins Licht zu rücken, will das Schlesische Museum seine zunächst für Breslau konzipierte Ausstellung auch an anderen Orten zeigen. Fest steht bereits, dass die Schau am 7. April 2017 in Görlitz eröffnet wird. Und vielleicht erfüllt sich eines Tages sogar der Wunsch von Andreas Meier, Heinrich Tischler in einer Retrospektive in Israel zu zeigen.
Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Juli im Breslauer Stadtmuseum, dem ehemaligen Königsschloss, Kazimierza Wielkiego 35, zu sehen. Geöffnet täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr.
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