Für Berl Lasar ist die russische Präsidentschaftswahl bereits entschieden. Mehrere Wochen vor dem eigentlichen Wahltag, dem 4. März, bezeichnete der Oberrabbiner der Chabad-Organisation »Föderation der jüdischen Gemeinden Russlands« (FEOR) Wladimir Putin bei einem Treffen als neuen Präsidenten. Was die Juden in Russland jetzt bräuchten, sei Stabilität. Ihr Garant: Putin.
Dass die Führungsriege der FEOR einmal mehr auf einer Linie mit dem Kreml liegt, kann niemanden in der jüdischen Gemeinschaft Russlands ernsthaft überraschen. Die anderen großen Dachorganisationen »Russischer Jüdischer Kongress« (REK), »Kongress der jüdischen religiösen Organisationen und Vereinigungen Russlands« (Keroor) und auch die »Moskauer jüdische Religionsgemeinschaft« (Mero) halten sich mit Kommentaren zur Wahl oder gar Kritik an ihrer Durchführung zurück. Eine organisierte jüdische Opposition gibt es also nicht.
Doch längst nicht alle Juden wollen Putin ein drittes Mal auf dem Präsidentensessel sehen. Zu den Kundgebungen der Opposition »Für faire Wahlen« kamen in den vergangenen Wochen zahlreiche prominente Juden und demonstrierten offen ihre Solidarität – unter anderem der Schriftsteller Boris Akunin und der Autor Dmitri Bykow. Die Journalistin Mascha Gessen beteiligte sich an der Organisation, ließ weiße Stoffschleifen produzieren, das Symbol der Protestbewegung, und an Hunderte Teilnehmer verteilen.
Alternativen Wer kann, nutzt seinen Einfluss, um die breite Öffentlichkeit auf die Opposition aufmerksam zu machen und über Alternativen zu Putin zu informieren. Die jüdische Chefredakteurin der Tageszeitung The New Times, Jewgenia Albaz, berichtete ausführlich über die Kundgebungen. Scharf kritisierte sie die Strategie des Kremls, ernsthafte Konkurrenten Putins von vornherein von der Präsidentschaftswahl auszuschließen, wie zuletzt den bekannten Politiker Grigori Jawlinski.
Die Auseinandersetzung um die Meinungshoheit wird hitziger. Vorläufiger Höhepunkt: Anfang Februar schmiss Gasprom Media, die Mediensparte des halbstaatlichen Energiekonzerns Gasprom, Alexej Wenediktow aus dem Aufsichtsrat ihres Radiosenders »Echo Moskaus«. Jetzt könnte der kritische jüdische Journalist als nächstes auch den Posten des Chefredakteurs verlieren.
Meinungen Jelena, Studentin an der renommierten Hochschule für Wirtschaft und Mitarbeiterin des »Labors für politische Studien«, findet es wichtig, dass jetzt viele Menschen auf die Straße gehen. Sie selbst hat an allen drei Moskauer Großdemonstrationen »Für faire Wahlen« teilgenommen. »Russland hat zwar auf dem Papier eine demokratische Verfassung.
Tatsächlich aber fanden in den vergangenen Jahrzehnten keine fairen Wahlen statt«, sagt Jelena. Die Ergebnisse hätten im Prinzip bereits vorher festgestanden. Einige der Gründe: Die geltende Gesetzgebung erschwere die Registrierung von oppositionellen Kandidaten. Alle, die jetzt gegen Putin antreten, gelten bei der Bevölkerung als Kreml-Marionetten, sei es der Kommunist Gennadi Sjuganow oder der »neue Hoffnungsträger«, der Oligarch Michail Prochorow.
Außerdem, so Jelena weiter, habe die amtierende Regierung faktisch ein Medienmonopol und berichte fast ausschließlich über den eigenen Aspiranten Putin. Und schließlich sei es bereits die Regel, dass die Auszählungsergebnisse gefälscht werden, etwa durch den massenhaften Einwurf von zusätzlichen Stimmzetteln für den Regierungskandidaten.
»Das politische System in unserem Land muss dringend modernisiert werden«, sagt Jelena. »Es ist wichtig zu begreifen, dass Erneuerung, Entwicklung und Modernisierung nicht im Widerspruch stehen zu Stabilität.« Den angeblichen Gegensatz zwischen Stabilität und Putin auf der einen und Chaos und Opposition auf der anderen Seite, entlarvt die 20-Jährige als Trick der Kampagnenmacher des Kremls. Damit soll die veränderungswillige Opposition beim Rest der Bevölkerung diskreditiert werden.
Zarentum Die 27-jährige Marina findet, dass es derzeit keine echte Alternative zu Wladimir Putin gibt. »Putin hat viel für unser Land getan. Er brachte Stabilität und Ordnung. Allerdings, das ist meine persönliche Meinung, hat sich diese Ordnung wieder aufgelöst, als Putin 2008 vom Präsidentenposten zurücktrat«, sagt die Juristin. In Russland gebe es keine demokratische Tradition. Das Zarentum sei gewaltsam abgeschafft worden. »Möglicherweise ist die parlamentarische Monarchie die richtige Staatsform für unser Land«, sinniert Marina.
Dass Putin viel für das Land getan hat, gibt auch Jelena zu. Er habe Russland aus dem Elend der 90er-Jahre geführt. Damals habe er den Russen nach langer Depression tatsächlich wieder eine Perspektive aufgezeigt. »Aber danach hat Putin einfach viel zu wenig dafür getan, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu modernisieren«, sagt Jelena.
Deshalb sei es grundsätzlich falsch, in ihm jetzt immer noch den Garanten für Stabilität zu sehen. »Aus Stabilität kann sehr schnell Stagnation werden«, befürchtet Jelena. Auch wenn sie nicht an eine Revolution in Russland glaubt oder daran, dass Putin abgewählt wird. Jelena will auch bei der nächsten Kundgebung der Opposition am kommenden Sonntag für eine Alternative demonstrieren.