Das polnische Institut für Nationale Erinnerung (IPN) möchte die Verbrechen untersuchen, die von 1940 bis 1945 im deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verübt wurden. Die Krakauer Abteilung des IPN, einer staatlichen Einrichtung, die sich mit der Aufarbeitung von Verbrechen in der Zeit der Nazi-Okkupation und des Kommunismus in Polen beschäftigt, möchte dazu alle noch lebenden ehemaligen Häftlinge des KZ vernehmen. Das Auschwitz-Museum schätzt ihre Zahl auf rund 500 Personen.
Ermittlungen Die Vernehmungen hätten bereits begonnen, so das IPN. Das Institut setzt damit die Untersuchung einer polnischen Kommission aus Staatsanwälten und Richtern fort, die bereits in den 70er-Jahren Ermittlungen eingeleitet, sie in den 80er-Jahren jedoch ausgesetzt hatte.
Mit den neuen Untersuchungen sollen unter anderem die Funktionsweise des Konzentrationslagers, das System der Zwangsarbeit, die genauen Abläufe der Morde und das mitwirkende Lagerpersonal ermittelt werden. Nach Angaben von Staatsanwalt Piotr Piatek, der die Untersuchung des IPN leitet, werde das jetzt aufgenommene Verfahren aber höchstwahrscheinlich mit einer Einstellung enden. Denn es gehe letztlich darum, abschließend aufzuarbeiten, wie dieses Todeslager funktioniert habe. »Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass noch jemand vom Lagerpersonal lebt. In diesem Fall würde diese Person für Verbrechen gegen das polnische Volk zur Verantwortung gezogen«, erklärte Piatek.
Völkermord Der Strafrechtler Witold Kulesza, in den Jahren 2000 bis 2006 Direktor der IPN-Hauptkommission zur Ermittlung von Verbrechen gegen das polnische Volk, glaubt indes nicht, dass konkrete, noch lebende Mitarbeiter des KZ-Personals aufgefunden werden. »Es geht vielmehr um die abschließende formalrechtliche Feststellung, dass alle, die als KZ-Aufseher in Auschwitz tätig waren, als der Beihilfe zum Völkermord schuldig gelten, und zwar unabhängig davon, ob ihnen eine aktive Teilnahme an den Morden nachgewiesen werden kann oder nicht«, sagte Kulesza der Jüdischen Allgemeinen.
Auf diese Weise würden die polnischen Ermittlungen zu der gleichen Beurteilung der Tätigkeit von KZ-Aufsehern führen, wie sie von der deutschen Justiz im Falle von John Demjanjuk als Urteil ausgesprochen wurde, so der Jurist. Kulesza vermutet, dass das geplante Erscheinen einer polnischen Ausgabe von Hermann Langbeins Dokumentation Der Auschwitz-Prozess über die Frankfurter Prozesse der Jahre 1963 bis 1965 eine Ursache für die Aufnahme der Ermittlungen ist. »Die Dokumentation enthält wertvolle Informationen und Aussagen, die für das IPN von Bedeutung sein können«, so Kulesza.
Die polnische Justiz hatte kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere Lagerverantwortliche und Mitarbeiter, darunter Lagerkommandant Rudolf Höß, vor Gericht gestellt. Insgesamt 20 Personen wurden damals in Polen aufgrund ihrer verbrecherischen Tätigkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet. Insgesamt bestrafte Polen wegen Kriegsverbrechen mehr als 5.400 Personen, von denen 767 hingerichtet wurden. Indes seien die Untersuchungen aus den 70er- und 80er-Jahren auch in ganz konkreten Fällen, wie etwa den Ermittlungen gegen den Lager-Arzt Josef Mengele, ohne formale Anklageschrift abgeschlossen worden, berichtet das IPN.
Die geschäftsführende Direktorin einer der regionalen jüdischen Gemeinden in Polen wollte sich auf Anfrage nicht zu den eingeleiteten IPN-Ermittlungen äußern. »Sicherlich kann man etwas dazu sagen, wenn Ergebnisse vorliegen. Aber jetzt ist es dazu noch zu früh«, sagte sie der Jüdischen Allgemeinen.