Osteuropa

Ungezügelter Judenhass in Serbien

Foto: picture alliance / Godong

Misko hat ein blaues Hemd an. Er hat braune, ernste Augen, sein Blick durchbohrt sein Gegenüber regelrecht. Den Bart hat er schon länger nicht getrimmt, er hat Falten im Stirn-und Augenbereich. Tiefe Augenringe verraten, dass er derzeit wenig schläft. Misko lehnt sich in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme, seine Körperhaltung ist angespannt.

Sowas hat er noch nicht erlebt, sagt er. Seit über zwei Jahrzehnten engagiert er sich in der Antisemitismusbekämpfung. Einen so massiven Anstieg antisemitischer Narrative, wie er es seit dem 7. Oktober in seinem Land beobachtet, hat er bisher jedoch nicht erlebt.

Antisemitische Aussagen, die vor einiger Zeit im öffentlichen Raum noch als unakzeptabel galten, sind nun salonfähig. Gebäude, in denen Juden vermeintlich leben oder arbeiten, sind mit antisemitischen Graffiti überzogen. Die Anspannung auf den Straßen ist spürbar, die Lage äußerst aufgeheizt. Eine öffentliche Kampagne gegen die NGO Haver, die einzige jüdische NGO in Serbien, ist vom Damm gebrochen.

Aufklärung über die Schoa

Haver klärt mit Bildungsveranstaltungen über die Schoa und Antisemitismus auf. Die Holztür, die zum Büro von Haver führt, ist mit roter Farbe beschmiert. Auch die kahlen Wände links und rechts von der Tür haben rote Farbspritzer abbekommen. Auf der Wand unter den Metallbriefkästen, die einen Hauch des ehemals sozialistischen Jugoslawiens erahnen lassen, ist mit grüner Farbe und kyrillischen Buchstaben »Israel ermordet Kinder« und »Freiheit für Palästina« gesprüht.

Mit der gleichen Farbe hat auch jemand auf der weißen Eingangstür des Gebäudes: Haver raus aus Serbien gepinselt. Unter den Briefkästen sind schwarz-weiß Fotos von verletzten Kindern vor zerstörten Gebäuden aufgeklebt. Die Bilder stammen vermutlich aus Gaza.

Die Mitarbeiter der NGO, deren Büro so verwüstet und mit antisemitischen Graffiti überzogen wurde, mussten ihren Standort verlegen.

Katalysator für Judenhass

Was anhand dieses Beispiels gesehen werden kann, ist eine grundlegende, gefährliche, nicht neue, doppelte Inhaftnahme: Ein Krieg im Nahen Osten wirkt als Katalysator für vorhandenen Antisemitismus, und verantwortlich gemacht für israelisches Handeln wird nicht ein israelischer Staat, sondern Juden weltweit.

Im Dezember 2023 reist Misko nach Berlin, um sich mit Vertretern von 20 weiteren Organisationen aus ganz Europa zum Workshop »Hands-on against Antisemitism« zu treffen.

In Workshop-Sessions, bei Podiumsdiskussionen und beim Kaffee in den Gängen des Hotels versuchen die Vertreter dieser unterschiedlichen Organisationen, Wege zu finden, wie sie den neuen Herausforderungen in ihren jeweiligen Ländern begegnen können. Die Ereignisse vom 7. Oktober und ihre Nachwirkungen stellen eine Zäsur für alle Organisationen dar und bilden einen mehr als bedrückenden Hintergrund für die Veranstaltung in Berlin.

Elan und Kreativität

Seit September sind diese 20 Organisationen Teil eines Netzwerks, das den Namen European Practitioners Network Against Antisemitism trägt, kurz: EPNA. Aus der Schockstarre, die wir in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober bei unseren Mitgliedern beobachten mussten, konnten sie sich mittlerweile befreien.

In Berlin lachen sie, sind kreativ, haben Elan. Sie entwickeln gemeinsame Projekte, tauschen sich aus, suchen motiviert und trotzig nach neuen Wegen, um dem aufbrandenden Antisemitismus in ihren jeweiligen Ländern Einhalt zu gebieten und dabei den Blick auf Europa zu richten. Sie möchten sich nicht beugen oder zurückziehen, betonen sie immer wieder. Trotz der Widrigkeiten sei jetzt Zeit zu kämpfen.

Diese Herausforderungen sind in einigen europäischen Ländern äußerst besorgniserregend, die Konsequenzen für Juden weitreichend. In Großbritannien markieren Schüler die Türen von Klassenräumen, in denen sich jüdische Kinder befinden mit Davidssternen.

Keine nationalen Grenzen

Fußballspiele werden abgesagt, weil Schüler sich weigern, mit jüdischen Kindern zu spielen. Netzwerkmitglieder aus anderen Ländern berichten ebenfalls davon, dass die aktuelle politische Atmosphäre die Arbeit erschwere, zugleich aber auch ihre Notwendigkeit belege.

Der Ursprungsgedanke hinter der Gründung des EPNA ist schlicht: Antisemitismus kennt keine nationalen Grenzen, lässt sich nicht von sprachlichen Barrieren beeindrucken und wird durch kulturelle Unterschiede nicht signifikant eingeschränkt.

In seiner völligen Ungebundenheit hat es der Antisemitismus geschickt vermieden, sich den gängigen Einschränkungen zu unterwerfen, die selbst in einer weitgehend globalisierten Welt weiterhin bestehen. Wenn also Antisemitismus keine Schranken akzeptiert, warum sollten wir es tun?

Überregionale Auswirkungen

Sogar der Verfassungsschutzpräsident warnt mittlerweile: Unsere Demokratie sei in Gefahr. Vor allem Rechtsextremismus, Antisemitismus und das Erstarken entsprechender Parteien - gepaart mit einer lethargischen Mitte der Gesellschaft, die nicht klar Position bezieht oder beziehen will - bedroht die bundesrepublikanische Demokratie.

Und das zeigen die gemeinsamen Tage immer wieder: Die Entscheidungen, die jetzt in europäischen Nationalstaaten getroffen werden, haben Auswirkungen auf europäische Länder und darüber hinaus. Der einzige Weg, so sind sich alle einig, den Kampf gegen Antisemitismus jetzt entscheidend zu stärken ist einer, der sich ebenso wenig an nationalstaatliche Grenzen hält wie seine Gegner.

Politische Ereignisse, die eigentlich einen regionalen Charakter haben, können auch überregionale Auswirkungen entfalten. Die Wahl einer rechtspopulistischen Regierung in den Niederlanden führt beispielsweise zu Diskursverschiebungen in Frankreich: Weil es dort geht, warum nicht hier?

Bekannte Wechselwirkungen

Genauso wie Wahlerfolge der AfD in Deutschland die politische Kultur in Polen oder Ungarn beeinflussen: Deutschland gibt den Konsens, gegen Antisemitismus zu kämpfen auf – da sind wir dabei!

EPNA setzt genau hier an und wendet diese bekannten Wechselwirkungen und Überlagerungen ins Positive. Das politische Gewicht Deutschlands anzuerkennen ist hierfür ein wichtiger, erster Schritt. Die Verantwortung, die sich eben nicht auf die Bundesrepublik beschränkt, sondern auch Effekte für die Zukunftsgestaltung des gesamten Kontinents hat, wird von uns genutzt, um Europa in Gänze in den Blick zu nehmen.

Die bi- und multilateralen Projekte, die im EPNA-Netzwerk entstehen, stellen ein Gegengewicht zur Verhärtung nationalstaatlicher Narrative dar.

Lichtblick im Dunkel

Dass wir dieses Netzwerk kurz vor dem 7. Oktober gegründet haben, so mussten wir feststellen, ist ein Lichtblick im Dunkel. Unsere Netzwerkmitglieder dursten nach Austausch und innovativen Strategien in der Antisemitismusbekämpfung. Sie möchten Best Practices aus anderen Ländern kennenlernen, sich von diesen für ihre eigene Arbeit inspirieren lassen und mit konkreten Projektideen für bi- und multilaterale Projekte in ihre Heimatländer zurückreisen.

Und so kehrt Misko nach dem dritten Tag des EPNA-Workshops inspiriert und ermutigt nach Serbien zurück. Er nimmt eine Idee für ein Kooperationsprojekt mit einer kroatischen Partnerorganisation mit nach Hause, mit der er gemeinsam dem zunehmenden Antisemitismus in der Region etwas entgegensetzen möchte.

Anna Solovei und Florian Eisheuer sind Politikwissenschaftler. Sie arbeiten als Programmmanagerin und Programmleiter beim European Practitioners Network against Antisemitism.

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