Als Sitz des Papstes hatte Rom einen besonderen Status, sodass sich die dortige jüdische Gemeinde auch unter deutscher Besatzung sicher fühlte. Damit er von Deportationen absah, hatte der römische Statthalter, SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler, bereits 50 Kilogramm Gold erpresst. Davon kamen etwa 15 von Pfarreien und privaten Spendern; der Vatikan brauchte einen angebotenen Kredit nicht zu gewähren.
Die Bewohner des jüdischen Ghettos ließen sich täuschen und nahmen an, dass keine Räumung bevorstand. Sie glaubten auch nicht den Warnungen, dass bereits eine Deportationsliste erstellt war. Der Befehl zu einer Aktion gegen die Juden kam jedoch schon am 24. September 1943. Drei Wochen später, am 16. Oktober, gegen fünf Uhr morgens, stürmten SS-Truppen den Portico d’Ottavia im Herzen des Ghettos, der sich einige Straßenzüge am Tiber aufwärts erstreckte. Sie nahmen mehr als tausend Personen fest, darunter 200 Kinder. Zwei Tage später wurden sie in 18 versiegelten Waggons nach Auschwitz deportiert. Nur 16 von ihnen kehrten zurück: eine Frau und 15 Männer.
Einen der überlebenden Männer traf Papst Franziskus diesen Mittwoch am Rande der Generalaudienz im Vatikan. In einer Grußbotschaft zum 70. Jahrestag der Deportation rief Franziskus zu Wachsamkeit vor Rassismus und Antisemitismus auf. Die Erinnerung sei nötig für eine Zukunft, in der die »unsagbare Ungerechtigkeit« der Schoa nicht mehr möglich sein dürfe«. Roms Oberrabbiner Riccardo Di Segni verlas das Grußwort in der Großen Synagoge.
Schweigen Warum schritt Franziskus’ Vorgänger, Papst Pius XII., damals nicht ein? Rolf Hochhuth kam 1963 mit seinem provokanten Theaterstück Der Stellvertreter zu einem vernichtenden Urteil: Das Schweigen des Papstes und seine Passivität seien verbrecherisch gewesen. Doch Papst Benedikt XVI. unterschrieb Ende 2009 ein Dokument, um die Heiligsprechung Pius’ XII. voranzutreiben. Dessen Schweigen damals sei eine absolut notwendige Strategie gewesen. Und darüber hinaus habe er nach der Razzia verfolgten Juden in Rom Kirchenasyl angeboten. Diese These wurde durch eine internationale Pius-Ausstellung und eine – wenngleich stark kritisierte – deutsch-italienische Fernsehproduktion verstärkt. Auch die israelische Holocaustgedenkstätte Yad Vashem hat seine Bewertung des Pontifikats von Pius XII. im vergangenen Jahr zum Teil verändert – was die jüdische Gemeinde in Rom sehr verärgerte. Der römische Oberrabbiner Riccardo Di Segni deutete den Verdacht an, es sei ein politischer Schritt gewesen.
Der Freiburger Theologe und Kirchenhistoriker Klaus Kühlwein hat die Rolle des damaligen Papstes in seinem jüngsten Buch Pius XII. und die Judenrazzia in Rom zum Teil anhand von noch nicht veröffentlichten Dokumenten und Zeugenaussagen hinterfragt. Das Ergebnis seiner Analyse zeigt, dass sich Pius XII. im Vorfeld der Razzia und während der Aktion in hohem Maße zurückhielt. Er sandte seinen Staatssekretär Kardinal Maglione zu Krisengesprächen mit dem deutschen Botschafter Ernst von Weizsäcker, trat aber selbst nicht in Erscheinung. Durch deutliche Schritte hätte er die Gefangennahme und Deportation der Juden nach Auschwitz verhindern können. Seine schützende Hand wäre sogar weniger problematisch und riskant gewesen als das folgende Kirchenasyl.
Oberrabbiner Di Segni griff das Thema offiziell nicht weiter auf, als er vergangenen Freitag mit einer Delegation der jüdischen Gemeinde Roms Papst Franziskus besuchte. Di Segni erklärte im Anschluss an die Begegnung im Vatikanischen Hörfunk, dass er mit dem Papst einen offenen Dialog führen könne und er einen sehr positiven Eindruck hinterlassen habe. Die beiden Männer hätten über biblische Themen gesprochen, über Papst Franziskus’ Erfahrungen mit der jüdischen Gemeinde in Argentinien sowie über die künftigen Schritte des gemeinsamen Dialogs.
Der Papst erklärte nach der Begegnung mit den jüdischen Gemeindevertretern: »Wir werden in wenigen Tagen zum 70. Mal der Deportation der Juden aus Rom gedenken. (…) Dieser Gedenktag wird uns auch die Gelegenheit geben, daran zu erinnern, wie es die christliche Gemeinde dieser Stadt in der Stunde der Dunkelheit geschafft hat, ihre Hand dem Bruder in Schwierigkeiten auszustrecken. Wir wissen, dass viele religiöse Einrichtungen, Klöster und die päpstlichen Basiliken selbst, in Auslegung des päpstlichen Willens, ihre Türen öffneten für einen brüderlichen Empfang und dass viele einfache Christen Hilfe anboten.«
Archiv Der Pressesprecher der jüdischen Gemeinde Roms, Fabio Perugia, sieht die Rolle von Pius XII. kritischer: »Man muss die Freigabe des Inhaltes der Vatikanarchive abwarten, der durchaus Überraschungen aufweisen kann«, sagte er, »bis dahin bleibt die Bewertung bestehen, dass Pius XII. Schuld daran trägt, (…) nicht ausreichend getan zu haben, um die Deportationen der Juden zu stoppen.« Es habe viele Christen gegeben, die Juden halfen – oft aus Nächstenliebe und manchmal gegen Geld –, aber man könne von der katholischen Kirche nicht dasselbe sagen. »Sie hat keine Richtung vorgegeben, wie man sich angesichts des Nationalsozialismus verhalten soll.«
Mythos Auch den Kirchenhistoriker Kühlwein hat die Erklärung von Papst Franziskus vergangene Woche etwas enttäuscht: Es fehlten darin kritische Töne zur verweigerten Hilfe während der Razzia. Kühlwein hatte sich im Mai dieses Jahres in einem offenen Brief an den Papst gewandt und darum gebeten, den vom Vatikan unterstützten Mythos über Pius XII. als Retter der Juden während der Razzia zu beenden.
Die Anteilnahme von Papst Franziskus am vergangenen Freitag war allerdings eindeutig: »Wir werden daran erinnern und für die unschuldigen Opfer der menschlichen Barbarei und ihre Familien beten«, sagte er. Es sei ein Widerspruch für einen Christen, Antisemit zu sein. »Der Antisemitismus sei aus dem Herzen und dem Leben eines jeglichen Menschen verbannt«, forderte der Papst.
Rabbiner Di Segni lud Franziskus zu einem Besuch in die römische Synagoge ein. Vielleicht wird man bei dieser Begegnung, die wahrscheinlich schon im nächsten Jahr stattfindet, neue Worte hören. Im kommenden Jahr möchte der Papst auch Israel besuchen – nach Medienberichten soll dies im März sein, denn Präsident Schimon Peres, den er gern treffen möchte, scheidet im Juli aus dem Amt.
Klaus Kühlwein: »Pius XII. und die Judenrazzia in Rom«. epubli, Berlin 2013, 400 S., 24,90 €