Etwas Statisches liegt über Buitenveldert. Die Straßen sind leer, noch immer ist Lockdown. Unscheinbar wie der kalte Aprilmorgen wirkt der Apartmentblock: graue Fassade mit weißen Fenstern, schmale Galerien vor den Wohnungstüren. Das Postkarten-Amsterdam scheint weit entfernt.
Man sollte sich von diesem Eindruck nicht täuschen lassen, denn hinter einer dieser Türen wurde in den vergangenen Monaten einer der spektakulärsten Erfolge der Parlamentswahlen geplant: Dass die paneuropäische Partei VOLT gleich mit drei Abgeordneten erstmals in ein nationales Parlament einzog, sorgte international für Aufsehen. Die betreffende Tür öffnet sich, und einer der Architekten dieses Triumphs bittet herein: Itay Garmy, 27, Wahlkampf-Chef von VOLT Nederland.
Ihn fasziniert vor allem die Bürgernähe und Transparenz seiner Partei.
Dass er in diesem Alter eine solche Aufgabe bewerkstelligt hat, sagt einiges aus über die Partei, die mehr als andere auf den Idealismus und Optimismus ihrer oft jungen und hoch gebildeten Mitglieder setzt. Und natürlich sagt es auch einiges aus über Itay Garmy, der nun an seinem Wohnzimmertisch Platz nimmt, hinter einem Laptop mit lila VOLT-Aufkleber.
studium Nach einem PPLE- (Politik, Psychologie, Jura und Wirtschaft) sowie Krisen- und Sicherheitsmanagement-Studium hatte Garmy gerade begonnen, als Cyber Security Consultant bei einem Finanzdienstleister zu arbeiten, als man ihm anbot, Chefstratege des Wahlkampfs zu werden.
Man kann sich Itay Garmy von zwei Seiten nähern. Von der einen sieht man den Sohn eines jemenitischen Israelis und einer Brasilianerin, die Alija gemacht hat. Geboren nach dem Umzug der Familie in die Niederlande, aufgewachsen südlich von Amsterdam, in Amstelveen.
Er besucht die jüdische Grundschule, danach auf eigenen Wunsch die jüdische Sekundarschule, die er aber wieder verlässt und auf eine andere Schule wechselt, weil ihm alles zu eng ist und ihn, wie er sagt, »das Leben jenseits der jüdischen Blase« reizt. »2000 Schüler statt 100 – das fand ich fantastisch! In meiner Klasse waren Leute aus Marokko, Surinam, den Niederlanden und Bosnien.«
israel Von der anderen Seite aus gesehen ist da ein Jugendlicher, der nach dem »Gaza Flotilla«-Vorfall 2010, als israelische Soldaten das Schiff »Mavi Marmara« enterten und neun Menschen dabei ums Leben kamen, in der Klasse angesprochen wird: Warum tut Israel das, was steckt dahinter? Itay, der immer schon viel liest und den Dingen auf den Grund gehen möchte, will verstehen und mitreden können. Er stößt sich daran, wenn Menschen Israel pauschal verurteilen oder unreflektiert in den Himmel heben. »Da fehlt die Nuance«, denkt er sich dann – wie später noch so oft.
Dieser Satz prägt nicht nur seinen Blick auf den jüdischen Staat, sondern ganz allgemein und bis heute sein Verständnis von Politik und Gesellschaft.
Zunächst aber tritt er der zionistisch-sozialistischen Jugendorganisation »Habonim Dror« bei, »weil ich dort das Gefühl bekam, etwas über Israel zu lernen und andere jüdische Leute, verstreut über die ganzen Niederlande, zu treffen«.
vorbild Mit 16 nimmt er an einer einmonatigen Israelreise der Organisation teil. Dabei lernt er das Land, in dem er bislang in jeden Sommerferien seine Verwandtschaft besuchte, ganz anders kennen. Manches verstört ihn: »Frauen, die im Bus hinten sitzen«, oder die Sackgasse im Konflikt mit den Palästinensern. Doch Garmy entdeckt auch »ein sehr warmes Gefühl: Hier gehöre ich hin«. Er nimmt sich Yitzhak Rabin und David Ben Gurion zum Vorbild und beschließt: »Wenn mich etwas stört, liegt es an mir, es zu verändern.«
Nach der Schule beginnt er eine einjährige Ausbildung zur Vorbereitung auf den Militärdienst in Israel. »Ich war im ruhigen Amstelveen aufgewachsen und lebte dann auf einmal mitten in der Wüste.« Nach drei Monaten bricht Krieg aus. Itay lässt sich in den Süden, nach Sderot, versetzen, wo er Familien hilft, die Zeit der Raketenangriffe zu überstehen.
Nach dem Waffenstillstand setzt er sein Ausbildungsprogramm fort. Doch in ihm reift die Erkenntnis, dass der Frieden, den er dem Land wünscht und für den er sich einsetzen will, so bald nicht kommen wird. Und weil ihm Israel so am Herzen liegt, trifft ihn das persönlich – so sehr, dass er in die Niederlande zurückkehrt.
PARTEIARBEIT Ruhig wird es jedoch auch dort nicht. Itay Garmy wird Vorsitzender von Habonim, er engagiert sich im Security-Bereich der jüdischen Gemeinschaft und in der Arbeiterpartei PvdA – nicht zuletzt, weil auch Rabin und Ben Gurion Sozialdemokraten waren. Manchmal ärgert es ihn, dass die Parteileitung nicht deutlicher Stellung gegen Antisemitismus bezieht. Und dann, bei den Europawahlen 2019, kreuzen seine Wege diejenigen der neu gegründeten Partei VOLT. Zwar wählt er noch einmal die Sozialdemokraten, doch dieser Ansatz der Erneuerung, in ganz Europa eine andere Art von Politik zu betreiben, bürgernah und transparent, deckt sich genau mit seinen Vorstellungen.
Auch in der neuen Partei zeigt Garmy seinen Drang, zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Und so bewirbt er sich für eine interne Stelle als Koordinator, nimmt an einem Kampagnenkurs teil, und im September 2020 fragt man ihn, ob er im kommenden Wahlkampf den Platz auf der Brücke einnehmen möchte. Nach einigem Überlegen sagt er zu: »Eine einmalige Chance!«
Diesmal hat er es bei den Wahlen noch nicht ins Parlament geschafft
Sein Arbeitgeber stellt ihn für einige Monate frei, und Anfang 2021 taucht er ein in einen »Tunnel«. Familie und Freunde müssen auf ihn verzichten, fürs Lesen oder Matches seiner Lieblingsklubs, Real Madrid, Ajax und PSV Eindhoven, hat er keine Zeit mehr. Denn bis spät in die Nacht tüftelt er am Wahlkampf, oft zu Hause oder im Austausch mit Kollegen in der Parteizentrale in Utrecht.
Für Itay Garmy, der auf dem elften Platz kandidierte, hat es nicht bis ins Parlament gereicht. Seinen drei Kollegen steht er nun als Mitarbeiter bei, auch Pressearbeit macht er vorläufig noch. Wann er in seinen Beruf zurückkehrt, weiß er noch nicht. Anders sieht es mit seinem Traum aus, das weiß er ganz genau: Um Volksvertreter zu werden, will er bei den Kommunalwahlen im nächsten Jahr den ersten Schritt gehen. Doch es muss nicht bei der Lokalpolitik bleiben. »Ich würde es auch gern zum Minister bringen«, sagt er. »Oder zum Premier.«