»Der Rebbe mochte keine Superlative«, erzählt Rabbi Yehuda Krinsky, der einstige Sekretär des Lubawitscher Rebben, Menachem Mendel Schneerson. Und dennoch: Der diesjährige Kongress der Chabad-Gesandten, der Schluchim, ist das größte jüdische Treffen weltweit. Und das war nicht das einzige Superlativ.
Rund 4.000 Schluchim sind nach Crown Hights gekommen. In dem sonst eher beschaulichen Viertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn herrscht während des Kongresses, des »Kinus Hashluchim«, vom Mittwoch vergangener Woche bis zu diesem Montag eine Art Ausnahmezustand. Fast jede Familie hat Betten und Zimmer für die Gäste bereitgestellt. Rabbiner aus aller Welt bevölkern die Straßen. Auf der Kingston Avenue, der Hauptstraße des Viertels, drängeln sich die Menschen auf den Bürgersteigen. Der Kongress erinnert an ein Familientreffen.
»Schalom Aleijchem, lange nicht gesehen« – immer wieder ist der Satz zu hören. Kleine Gruppen stehen zusammen, es wir umarmt, man tauscht Neuigkeiten aus, verabredet sich. Rabbiner aus Kapstadt treffen die aus Moskau, Kollegen aus Miami feiern Wiedersehen mit denen aus Sydney. Der Rabbiner von Brüssel, Menachem Hadad, plaudert mit dem Rabbiner von Texas, Shimon Lazarov, einem rundlichen Mann mit freundlichem Gesicht. Er unterhält nicht nur seinen Gegenüber und später weitere Umstehende mit lustigen Geschichten, sondern beginnt auch zu singen. Einige bleiben stehen, andere lächeln im Vorübergehen. Eine freundliche und heitere Atmosphäre.
Einkaufen Gegen Mittag machen die Kongressteilnehmer eine kurze Pause. Zeit für kleine Erledigungen wie das Einkaufen in »Gombo’s Bakery«, »Eber’s Liquor Store« oder der »Judaica World«. Koscheres Gebäck und Wein wechseln die Besitzer, Siddurim, Chanukka-Leuchter und vieles mehr. Bei »Kesser« lassen sich manche ihren für die Chabadniks charakteristischen Hut auf Vordermann bringen, oder sie legen sich gleich einen neuen zu. Hutmacher Reuven Robert hat alle Hände voll zu tun. »Baruch Haschem, der Kinus bringt uns viel Arbeit und ein gutes Geschäft«, freut er sich.
Fast rund um die Uhr sind in diesen Tagen die Synagogen voll. Etwa 30 gibt es in Crown Hights. Besonders viele suchen die im Haus Eastern Parkway 770 auf, wo der Rebbe sein Büro hatte. Hier ist das Herz der weltweiten Chabad-Bewegung. In der benachbarten Jeschiwa und der großen Synagoge kommen am Schabbat über 2.000 Beter zusammen. Gegenüber, in der Beis-Shmuel-Synagoge, sind es ebenfalls mehrere Hundert. Auch hier geht es international zu, ein Gemisch aus Englisch, Hebräisch und Jiddisch ist zu vernehmen. Das Gebet leitet ein Kongress-Teilnehmer, der Oberrabbiner von China, Shimon Freundlich. Beim anschließenden Kiddusch erzählt er vom jüdischen Leben in Peking. Freundlich hat dort ein Chabad-Haus errichtet. »Er ist der Rabbiner, der zu Chanukka einen riesigen Leuchter auf der chinesischen Mauer aufgestellt hat«, weiß ein Beter.
Vor und nach dem Schabbat findet das eigentliche Kongress-Programm statt. 97 Workshops zu den unterschiedlichsten Themen werden veranstaltet, es geht unter anderem um Lernprogramme, Internet, Buchhaltung, Rhetorik und Fundraising. Außerdem stehen verschiedene Aspekte des familiären Zusammenlebens im Zentrum, entsprechend dem diesjährigen Kongressmotto »Der Mensch und sein Heim«. Zusätzlich können sich die Rabbiner in einer großen Halle des »Oholei Torah« mit dem versorgen, was sie für ihre Gemeinden zu Hause brauchen: Software für die Spendenverwaltung, Toraschränke und vieles mehr. Auch hier wird gedrängelt, der Platz ist knapp.
Gruppenfoto Noch nie sind so viele zum jährlichen Treffen gekommen. Das merkt auch Fotograf Donal Holway, der am Sonntagmorgen das Gruppenbild aufnimmt. Die Rabbiner positionieren sich dazu auf sechsstufigen Podien auf. »Diesmal müssen wir sie im Halbrund aufstellen, sonst würden wir sie gar nicht alle aufs Bild bekommen«, sagt Holway. Durch die Linse seiner Weitwinkelkamera sieht er die Masse: in schwarzen Anzügen, mit Bart und Hut. Alles Männer.
Als der bekannte amerikanische Talkshow-Gastgeber Dennis Prager die Teilnehmer am Sonntag mit »Ladies and Gentlemen« begrüßt, korrigiert er sich augenzwinkernd schnell selbst. Denn Ladys sind beim Kongress nicht anwesend. Die Frauen der Chabad-Rabbiner, die Schluchot, haben jedes Jahr im Februar ein gesondertes Treffen.
Prager ist ein außergewöhnlicher Redner. Nicht nur, weil er als Radiomann Profi ist, sondern weil er gewissermaßen von außen kommt. Er ist, wie andere Referenten dieses Kongresses, kein Chabadnik. Er trägt keinen schwarzen Hut, sondern eine orangefarbene Lederkippa. Doch er kennt die Lubawitscher gut. Er spricht über ihre Wirkung nach innen. »Ihr beeinflusst die Juden, die nicht religiös sind. Ihr akzeptiert jeden, ungeachtet seiner Lebensweise. Das ist eure Power«, sagt er. Gleichzeitig, so Prager, habe Chabad eine unglaubliche Wirkung nach außen. »Ihr seid das Gesicht des Judentums für eine große Menge der nichtjüdischen Welt.« Und das, betont Prager, sei in fast jeder Ecke des Globus der Fall.
Bankett Chabad als weltweit tätige Gemeinschaft. Rabbiner Sholom Dovber Lipskar aus Florida erinnert sich noch an das erste Treffen der Schluchim. »Das war vor 27 Jahren. Damals waren wir vielleicht gerade mal 75 Rabbiner.« Diesmal ist die Dimension eine andere. Über das abschließende Gala-Dinner berichtet sogar die New York Times. Mit 4.500 Gästen, 400 Tischen, 340 Kellnern und 90 Chefköchen sei es das größte Bankett der Stadt.
Eigens für diesen Abend wurde eine Halle eines Piers direkt am Hudson zum Veranstaltungssaal umgebaut. Die Kongressteilnehmer – zahlreiche sind Gemeindemitglieder, die ihre Rabbiner begleiten –, Unterstützer und Gäste sind mit dabei, darunter auch bekannte Philanthropen wie George Rohr, Ronald S. Lauder und Gennady Bogolupov. Und über allem: der Rebbe. Ein riesiges goldgerahmtes Porträt des 1994 verstorbenen geistigen Führers der Chabad-Bewegung hängt ganz vorn an der Bühne. Er ist allgegenwärtig: In den Videos, die gezeigt werden, in den Reden, in den Gesprächen der Gäste.
Beim sogenannten Roll Call werden alle Teilnehmer aus den 76 Ländern in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen. Von Argentinien bis Zypern. Als Deutschland an der an Reihe ist, steht der Berliner Rabbiner Yehuda Teichtal mit den anderen Rabbinern aus Deutschland, unter anderem aus Hamburg, Dresden und Karlsruhe, auf und erhält freundlichen Applaus. Auch Mexiko ist irgendwann dran. Von dort aus Cancun ist Rabbiner Mendel Druk mit dabei. Er findet das Bankett und den gesamten Kongress sehr inspirierend: »Das gibt uns Kraft und Energie für das ganze Jahr.« In seiner Begleitung ist Alex Krantzberg, Geschäftsmann aus Cancun und Beter des dortigen Chabad-Hauses. Er sagt: »Das ist für mich ein unglaubliches Ereignis, und das nicht nur, weil ich noch nie so viele Rabbiner auf einmal gesehen habe.«
Und dabei waren noch nicht einmal alle da. 4.423 Schluchim sind es weltweit, verkündet der Chairman, Rabbiner Moshe Y. Kotlarsky, stolz. Er berichtet vom neuen Gesandten in Portugal. Auch irgendwo in Kanada sei ein neues Chabad-Haus in Planung. Die Bewegung breitet sich weiter aus. Es scheint, als ob der Kongress im kommenden Jahr noch größer wird.