Unter den Holocaust-Opfern gab es stillschweigend eine Rangfolge. Wer aus einem Todeslager entkommen war, hatte Schlimmeres durchlitten als jemand, der untergetaucht überlebt hatte. Durch Flucht rechtzeitig aus dem Einzugsgebiet der NS-Terrorherrschaft entkommen zu sein, war noch einen Grad besser. Doch Ernst Tollers Suizid in New York und das Ende von Stefan Zweig und dessen Frau in Brasilien zeugen davon, dass die Bewahrung von Leib und Leben langfristig keine Rettung bedeuten musste.
Wie werden sich die rund 18.000 jüdischen Exilanten aus Berlin, Wien und Wilna gefühlt haben, die es bis Juni 1940 auf dem Seeweg oder danach auf dem Landweg mit der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Shanghai schafften? Erleichtert? Motiviert, in der für Europäer ziemlich exotischen chinesischen Hafenstadt unter japanischer Besatzung, solange man dort verweilen musste, möglichst schnell zurechtzukommen? Verstört, weil der lange Arm der Nationalsozialisten bis nach Ostasien reichte und deutsche Firmen schon seit 1936 keine jüdischen Mitarbeiter mehr beschäftigen durften?
Transitraum In der aktuellen Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte gibt ein Beitrag des Freiburger Historikers Bernd Martin einen Überblick über »Shanghai als Zufluchtsort für Juden 1938 bis 1947« und resümiert in neun Abschnitten die »Konturen einer Zwischenstation«. Interessanterweise wurde Shanghai nie als dauerhafter Ansiedlungsort begriffen, sondern in erster Linie als Transitraum, den die meisten nach der offiziellen Kapitulation Japans am 3. September 1945 nach und nach verließen.
Ende der 40er-Jahre war mit dem Einmarsch der Volksbefreiungsarmee »der jüdische Zufluchtsort Shanghai endgültig aufgelöst«. Ende Mai 1946 sollen rund 16.300 Personen, von denen sich 87 Prozent zum Judentum bekannten, auf ihre Ausreise gewartet haben. »Nur 5000 von ihnen« zogen in den 1948 neu gegründeten Staat Israel. In der Wahrnehmung des Autors ist das ein geringer Anteil, den er als »Zeichen für die religiöse Indifferenz der meist säkularisierten Juden« deutet.
Diese Interpretation mag teilweise zutreffen, doch sie ist nicht maßgeblich. Wer im Fernen Osten nicht Fuß gefasst hatte, den führte die Suche nach verlorenen Familienmitgliedern und Freunden auf Repatriierungswegen zunächst ins vertraute, entfremdete Europa zurück. Und dann musste man sich erneut entscheiden: Richtung Amerika oder in ein kleines, umkämpftes Land im Orient? Dafür brauchte man weniger religiöse Verwurzelung als zionistisch inspirierten Idealismus.
Jüdische Präsenz Dabei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass Shanghai, lange bevor es Überlebensquartier wurde, jüdische Zuwanderung kannte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war die Hafenstadt zu einer Weltmetropole mit sechs Millionen Einwohnern – mehr als eine halbe Million davon waren Ausländer – aufgestiegen. Die Mischung wurde ergänzt durch eine sefardisch-jüdische Kolonie, die von Bagdad aus über Indien dorthin gefunden hatte. Und auf der anderen Seite durch eine aschkenasische Gemeinde, die großenteils vor der russischen Revolution geflohen war und eher zur armen, weißen Unterschicht Shanghais zählte.
Diese jüdische Präsenz in der Stadt wurde für die ab 1933 aus Mitteleuropa eintreffenden Flüchtlinge sehr wichtig. Hinter 1938 gegründeten Hilfsorganisationen standen erfolgreiche Kaufleute wie die sefardischen Familien Sassoon und Kadoorie, der Ungar Paul Komor sowie das American Joint Distribution Committee. Ihre Hilfstätigkeit wurde massiv beeinträchtigt durch die Besetzung der Stadt nach der »Schlacht um Shanghai« im Herbst 1937 durch japanische Truppen. Doch man konnte überleben: »Unsere Behandlung war nie gut, aber auch nie mörderisch«, erinnert sich W. Michael Blumenthal, ehemaliger US-Finanzminister und Direktor des Jüdischen Museums Berlin, an sein achtjähriges Exil ab 1939 in Shanghai.
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 64, Heft 4, De Gruyter, Berlin 2016