Uruguay

Überleben im Kleiderschrank

Die Geschichte ihres Überlebens während der NS-Zeit kannten lange Zeit nur wenige: Charlotte de Grünberg Foto: Victoria Eglau

Das bin ich, wenige Tage vor unserer Abreise aus Belgien nach Frankreich. Mein Vater ließ uns fotografieren – es war ein Abschiedsbild. Abschied von unserem bisherigen Leben.» In ihrer Wohnung in Uruguays Hauptstadt Montevideo zeigt die 86-jährige Charlotte de Grünberg ein Familienfoto aus dem Jahr 1941: die Eltern Léon und Blima, der ältere Bruder Raymond und sie selbst, damals acht Jahre alt, ein blondes Mädchen mit einer großen Schleife im Haar.

Die Familie Strawczynski, so Charlottes Mädchenname, wohnte damals im belgischen Lüttich. Die Eltern waren polnische Juden, Charlotte und ihr Bruder kamen in Belgien zur Welt. Vater Léon war Textilfabrikant, die Familie führte in Lüttich ein ruhiges, gutbürgerliches Leben. Doch im Herbst 1941, angesichts der zunehmenden Bedrohung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung, beschlossen Léon Strawczynski und seine Frau, dass es zu gefährlich war, in Belgien zu bleiben.

Registrierung «Angefangen hatte es mit dem Zensus der Juden. Mein Vater entschied, uns nicht registrieren zu lassen. Aber Mitte 1941 wurde das Wort Jude in unsere Ausweise gestempelt. Den Judenstern haben wir nur ein paar Tage getragen – dann hat Papa gesagt, wir sollten ihn abmachen. Etwas später wurde meinem Bruder und mir verboten, auf dieselben Schulen wie die anderen Kinder zu gehen. Ich habe fast alle meine Freunde verloren. Das war sehr erniedrigend und schmerzhaft für mich!»

Diese Erinnerungen hat Charlotte de Grünberg mit dem Schriftsteller Ruperto Long geteilt, der 2016 in Uruguay ein Buch über sie veröffentlichte: La niña que miraba los trenes partir (Das Mädchen, das den Zügen nachsah).

De Grünberg ist in der akademischen Welt Uruguays bekannt: Seit den 80er-Jahren ist die zierliche elegante Frau Generaldirektorin eines Ablegers der weltweit operierenden jüdischen Bildungseinrichtung ORT, der größten privaten Hochschule des Landes. Doch die Geschichte ihres Überlebens während der NS-Zeit kannten bis zum Erscheinen des Buches nur wenige.

Flucht Ausschlaggebend für die Flucht der Familie Strawczynski aus Belgien im Herbst 1941 war, dass dem Vater die Deportation zum «Arbeitseinsatz» drohte. Léon besorgte falsche Papiere, und an einem Novembermorgen brach die Familie unter dem Nachnamen «Wins» nach Frankreich auf. Das Ziel war die sogenannte freie Zone im Süden, die zu jenem Zeitpunkt noch nicht von den Truppen Nazideutschlands besetzt war. Noch ahnte die Familie nicht, was ihr bevorstand.

«In dem Moment, in dem wir in Lüttich in den Zug stiegen, verloren wir nicht nur unser normales Leben und unsere Freunde, sondern auch unsere Identität», blickt Charlotte de Grünberg zurück. «In Frankreich war unsere Familie völlig schutzlos. Wir tauchten in großen Städten und kleinen Dörfern unter – immer bemüht, unsichtbar zu sein.» Denn die «freie Zone» Frankreichs bot der jüdischen Familie nicht die Sicherheit, die sie sich erhofft hatte: Auch unter dem Vichy-Regime, das mit den Nationalsozialisten kollaborierte, mussten Juden Verhaftung und Deportation fürchten.

Bis 1941 führte die Familie in Lüttich ein ruhiges, gutbürgerliches Leben.

Im November 1942 wurde auch der Süden Frankreichs von den Deutschen besetzt. Charlotte de Grünberg, ihr Bruder und ihre Eltern lebten unter erbärmlichen Umständen in einer Privatpension in Lyon. Die Geschwister schliefen in einem großen Kleiderschrank, in dem sie sich meist auch tagsüber aufhalten mussten – ohne Spielzeug und ohne Bücher. Wenn eine Razzia der Gestapo oder der französischen Polizei drohte, verließ die Familie fluchtartig die Pension. Mehr als einmal versteckte sich die kleine Charlotte zwischen Abfallbergen in der Gasse.

Während jener beklemmenden Monate erlebte das Mädchen nur ein paar flüchtige Momente der Freiheit: Sie lief Richtung Stadtrand, setzte sich auf einen Hügel und schaute den Zügen hinterher, die Lyon verließen.

Eines Tages machte Charlotte eine furchtbare Entdeckung – Ruperto Long gibt sie in seinem Buch wieder: «An einem Nachmittag, während des Sonnenuntergangs, fiel mir ein alter Zug mit Viehwaggons auf, der sehr langsam fuhr. Plötzlich erkannte ich zwischen den Holzplanken der Waggons Arme und Hände. Nie werde ich dieses Bild vergessen! Wer waren die Unglücklichen, die in diesen Waggons transportiert wurden?»

schlepper Als Charlottes Eltern erfuhren, dass Juden aus Lyon Richtung Osten deportiert wurden, plante die Familie die Flucht in die neutrale Schweiz. Doch sie fiel skrupellosen Schleppern in die Hände.

Charlotte de Grünberg ist darüber noch immer empört: «Irgendwo in den Alpen haben sie uns im Stich gelassen, weit weg von der Schweizer Grenze. Das waren schreckliche Menschen, wie es sie auch heute noch gibt: die Schlepper im Mittelmeer, die Flüchtlinge belügen, betrügen und ausrauben – genau wie uns damals.»

Nicht nur setzten die Schlepper Charlottes Familie und 14 andere jüdische Flüchtlinge weit entfernt von der Grenze aus – es war auch ein von SS und Gestapo kontrolliertes Gebiet.

In dieser ausweglosen Situation half der Gruppe ein katholischer Pfarrer aus dem nächstgelegenen Dorf. «Er hat uns alle für mehrere Tage in einer Scheune versteckt und mit Essen versorgt. Das war für mich eine wundervolle Erfahrung», erzählt Charlotte, noch heute zutiefst dankbar. «Es war das erste Mal seit Langem, dass ich das Gefühl hatte, einer menschlichen Person begegnet zu sein. Dieser Priester hat sein Leben riskiert, und ich habe nie erfahren, ob er das überlebt hat.»

Odyssee Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte Charlotte de Grünberg den mutigen Pfarrer, dessen Nachnamen sie nicht kannte – aber es gelang ihr nicht, ihn ausfindig zu machen. 76 Jahre nach der Begebenheit schließlich las ein uruguayischer Priester das Buch über die Odyssee von Charlottes Familie und kontaktierte die Universitätsdirektorin. Er lud sie in seine Gemeinde in Montevideo ein, wo Charlotte de Grünberg im Oktober 2018 die dramatische Geschichte ihres Überlebens erzählte und den französischen Pfarrer, der sie und andere Juden vor den Nazis versteckt hatte, mit bewegenden Worten würdigte: «Dieser Priester war zweifellos sehr mutig, aber vor allem besaß er ethische Verantwortung – eine nicht gerade verbreitete Eigenschaft, vor allem in der damaligen Zeit. Auf seine menschliche Solidarität können Sie alle stolz sein.»

Der Leidensweg von Charlotte de Grünberg war noch lange nicht zu Ende. Nach dem gescheiterten Fluchtversuch in die Schweiz im Oktober 1942 folgten weitere Monate in Lyon, wo der Vater vorübergehend von italienischen Truppen gefangen genommen wurde. Dann tauchten die Strawczynskis in Grenoble unter, und schließlich, als es auch dort zu gefährlich wurde, versteckten sie sich in einem Dorf im Chartreuse-Gebirge. 1944 entkamen sie dort nur knapp einer Razzia.

Eine andere jüdische Familie, die im selben Haus untergeschlüpft war, hatte weniger Glück: Die Gestapo nahm das Ehepaar, seine zwei Söhne und eine Tochter mit. Aline war die einzige Freundin gewesen, die Charlotte während der einsamen Jahre ihrer Odyssee durch das besetzte Frankreich gefunden hatte. «Unendlich viele Stunden verbrachten wir gemeinsam, redeten und erfanden Spiele. Ich war sehr froh darüber, nach so langer Zeit wieder eine Freundin zu haben», zitiert Ruperto Long Charlotte in seinem Buch.

In Montevideo lernte sie bei einem Besuch ihren Mann kennen – und blieb.

Kurz nach dem schrecklichen Verlust, den Alines Deportation für das Mädchen bedeutete, gelangten Ende August 1944 gute Nachrichten nach Saint-Pierre-de-Chartreuse, das Dorf, das der Familie Strawczynski Unterschlupf gewährte: Die Alliierten hatten Paris befreit. Charlotte war fast zwölf Jahre alt und begriff nach und nach, dass sie die Schoa überlebt hatten.

In Paris jedoch, wohin sich die Familie im September 1944 durchschlug, erfuhr Charlottes Mutter Blima, dass ihre Eltern, Geschwister und andere Verwandte in Polen in den Vernichtungslagern ermordet worden waren. «Es war der Horror nach dem Horror. Unmöglich, diese Traurigkeit in Worte zu fassen! Meine Mutter konnte nicht schlafen, nicht essen. Ihre ganze Familie, ihr ganzes früheres Leben war ausgelöscht.»

Unter den Opfern war auch Blimas jüngerer Bruder Alter, Charlottes Lieblingsonkel. Alter hatte vor dem Krieg in Belgien Ingenieurwissenschaften studiert und die Familie seiner Schwester mit ihren Kindern Raymond und Charlotte oft besucht.

Auf einem der gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos in Charlotte de Grünbergs Wohnung in Montevideo ist ihr hochgewachsener, hübscher Onkel zu sehen.

Ende 1938, nach der Pogromnacht in Nazideutschland und angesichts der bereits kursierenden Gerüchte über einen geplanten Überfall auf Polen, beschloss der angehende Ingenieur, in seinen Heimatort Konskie zurückzukehren. Alter wollte seine Eltern, religiöse Juden, in der zunehmend bedrohlichen Situation nicht alleinlassen. Vier Jahre später, Ende 1942, wurde er im Ghetto von Konskie von den Nazi-Besatzern ermordet.

bindung Eine der eindrucksvollsten Er­innerungen aus den Tagen des Kriegsendes ist für Charlotte de Grünberg ein Gottesdienst, den die amerikanischen Streitkräfte in der Grande Synagogue de Paris organisierten. «Die Synagoge war voller Überlebender, die wussten, dass ein Teil ihrer Familie nicht mehr existierte. Die Menschen, die dort versammelt waren, waren alle halbtot. Aber an jenem Ort und in jenem Moment haben wir unsere Bindung an das Judentum, ein menschliches Judentum, erneuert», erzählt de Grünberg bewegt.

Ihre Stimme bricht, als sie, kaum hörbar, weiterspricht: «An jenem Tag habe ich mir gesagt: Egal, was mir passiert, ich habe eine Identität, eine einzige: Ich bin Jüdin.»

Anfang 1945 kehrte Charlotte de Grünberg nach Belgien zurück, ging wieder zur Schule und versuchte, an ihr früheres Leben anzuknüpfen. Als die Familie einige Jahre später Verwandte in Montevideo besuchte, lernte Charlotte den Mann kennen, mit dem sie bis heute verheiratet ist: einen jüdischen, in Uruguay geborenen Arzt.Seinetwegen fing sie ein neues Leben in Südamerika an, und auch ihre Eltern blieben in Uruguay, in der Nähe der Tochter. «Meine Eltern waren fantastisch», erinnert sich Charlotte de Grünberg lächelnd. «Vor allem haben sie uns beigebracht, niemals zu hassen. Ich glaube, diese Lektion habe ich gelernt.»

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