Vor dem gitterartigen Vorbau des ehemaligen Gefängnisses der Pyrenäen-Stadt Sort steht der Historiker Josep Calvet und spricht von Freiheit. Der 1965 geborene Katalane hat Jahre seines Berufslebens damit verbracht, jene unzähligen Flüchtlingsschicksale dem Vergessen zu entreißen, die außerhalb der spanischen Pyrenäen oftmals auch jenen unbekannt sind, die zum Beispiel das Buch der legendären Fluchthelferin Lisa Fittko gelesen haben. »Es gab mehrere Routen«, sagt Calvet, »und das zu verschiedenen Zeiten. In Deutschland sind wohl vor allem die Fluchtgeschichten Prominenter bekannt, etwa von Lion Feuchtwanger und Alma und Franz Werfel oder die so tragisch geendete Flucht von Walter Benjamin, drüben in Portbou. Aber das geschah im Nordosten nahe der Küste und im Jahr 1940.«
Schmuggler Das heute vor allem als Wander- und Wintersportort bekannte Städtchen Sort hingegen befindet sich mitten in den Pyrenäen, südwestlich von Andorra. Die kleinen Orte auf französischer Seite sind im Ausland kaum bekannt – ebenso wie jene etwa 4–5000 jüdischen Flüchtlinge aus ganz Europa, die nach dem deutschen Einmarsch 1940 dorthin geflohen waren und deren Lage sich mit jedem Monat verschärfte. Sie nämlich hatten keine amerikanischen Einreisevisa, oft noch nicht einmal reguläre Pässe, sodass sie auf die Hilfe professioneller Schmuggler angewiesen waren – und auf die Solidarität republikanischer Franco-Gegner, die wiederum 1939 nach Frankreich geflohen waren.
»Sie kannten die oft unwirtlichen Wege im Gebirge und gaben lebensrettende Ratschläge, obwohl danach dennoch viele der Flüchtlinge oberhalb der Schneegrenze erfroren oder bei Nacht und Nebel in Schluchten stürzten.«
Und die Überlebenden, die es dann bis Sort geschafft hatten, wo sie von der Guardia Civil zu Registrierungszwecken anfangs zwar interniert, aber nicht zurückgeschickt wurden, in ein potenziell tödliches Vichy-Frankreich, dessen vormals »Freie Zone« ab 1942 von der Wehrmacht besetzt war?
»Schauen Sie«, sagt Josep Calvet, der kein Freund pathetischer Worte ist und nun doch bewegt ist angesichts dessen, was auf die Besucher in der einstigen Polizeistation wartet, die heute ein Museum ist mit dem schönen katalanischen Namen »Museu Cami de la Llibertat« (Museum des Pfades der Freiheit).
Im gewölbeartigen Inneren an der linken Wand: Namen über Namen, eng untereinander gedruckt und aus nahezu allen europäischen Ländern, dahinter die gemeinhin Tod und Vernichtung assoziierenden Jahreszahlen 1940 bis 1944. Und es sind Lebende, Gerettete! Allein 3000 von ihnen hatten Sort durchlaufen – zuerst hier in diesem Gebäude, dann in kleinen Hotels, die von der jüdischen Hilfsorganisation JOINT angemietet worden waren auf Druck der Amerikaner und unter Duldung des ansonsten repressiven Franco-Regimes. In Barcelona hatte JOINT sogar ein eigenes Büro, in einem Gebäude an der Plaça de Catalunya, in dem sich heute ein Mobilfunkanbieter befindet. Wie das?
»Das fragen mich auch die zahlreichen Israelis, die als Wintersportler oder Sommer-Mountainbiker anreisen und dann nicht selten die Namen von Familienangehörigen entdecken, hier an den Wänden.«
Flyer, auch auf Hebräisch, zeigen sieben Fluchtorte im Gebirge auf.
Tatsächlich: Nicht nur sind zahlreiche Einträge im ausliegenden Gästebuch auf Hebräisch, sondern auch die von der örtlichen Tourismusbehörde gedruckten Flyer – und sogar ein Plakat, das insgesamt sieben Fluchtorte aufzeigt, darunter viele hoch oben im Gebirge. Also zum Wandern und Gedenken, da es inzwischen dort sogar veritable Flüchtlingsrouten-Wege gibt, mit Erklärungstafeln wiederum auch in Hebräisch, inklusive QR-Codes zum Scannen.
Doch wie war das mit Franco und dessen überraschender Entscheidung, die in Spanien angekommenen Juden nicht auszuliefern, obwohl ab 1942 oben an der Pyrenäengrenze deutsche Soldaten patrouillierten?
Zur gleichen Zeit tobte im Osten die Schlacht von Stalingrad, und der gerissene Diktator in Madrid hatte sofort die Kräfteverschiebung erspürt. So nahm er, vor allem um sein eigenes Nachkriegs-Schicksal besorgt, diskret Kontakt zu den Amerikanern auf, und in der Folge konnte auch die Hilfsorganisation JOINT in Spanien tätig werden. Viel hatten die Flüchtlinge jedoch auch der Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölkerung zu verdanken, und so war es wohl kein Zufall, dass im Jahr 2013 bei der Einweihung einer Gedenkstele im Bergdörfchen Tavascan sogar der israelische Botschafter aus Madrid kam.
SPURENSUCHE Und jenes Buch mit dem Titel Sort – Tel Aviv, das im Freiheits-Museum ausliegt und noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde? Josep Calvet hat es geschrieben und erzählt darin von den Schwestern Fanny und Rachel aus Karlsruhe, die als beinahe Einzige ihrer Familie überlebten, auf der Flucht auseinandergerissen wurden und danach im damaligen Palästina wieder zueinanderfanden.
Denn auf dem Dachboden eines Hotels in Sort hatte sich ein Brief gefunden, den die eine Schwester der anderen geschrieben hatte und der mangels präziser Adresse damals über das Mittelmeer zurückexpediert worden war – hierher nach Sort. Josep Calvet begab sich auf Spurensuche und recherchierte auch in Israel, sodass schließlich am 7. März 2018 die inzwischen hochbetagte Rachel in ihrer Altersresidenz in Rishon LeZion den 1944 in den Pyrenäen abgeschickten Brief ihrer inzwischen verstorbenen Schwester Fanny endlich in den Händen halten kann.
»Es war mir wichtig, auch an solche Geschichten zu erinnern, gleichsam eine Flaschenpost des Humanen in entsetzlicher Zeit«, sagt Josep Calvet. Sein Sort ist längst zu einem bedeutenden Erinnerungsort geworden – in Deutschland allerdings kennt es bisher kaum jemand. Doch vielleicht interessiert sich auch ein deutschsprachiger Verlag für Calvets ebenso profundes wie aufwühlendes Buch und rückt damit die »Pyrenäen-Route« wieder ins Bewusstsein.