Die Situation in Venezuela ist schrecklich. Das Geld ist nichts wert, die Versorgungslage katastrophal, es gibt keine Medikamente», sagt Jonathan Perl. Die Vorfahren des 48-jährigen Antiquitätenhändlers aus Caracas waren aus Bulgarien vor den Nazis nach Südamerika geflohen. Venezuela empfing damals als eines von wenigen Ländern Juden mit offenen Armen.
Perl hat lange mit sich gerungen, Venezuela zu verlassen. Im Mai dieses Jahres schließlich ist er nach Kolumbien ausgewandert. Wie so viele seiner Landsleute.
Nach UN-Schätzungen haben bislang rund 2,3 Millionen Venezolaner wegen der wirtschaftlichen und politischen Krise ihr Land verlassen, allein 1,6 Millionen in den vergangenen drei Jahren. Es ist die größte Flüchtlingswelle in der Region seit mehr als 50 Jahren. Die meisten Flüchtlinge nahm das Nachbarland Kolumbien auf.
Nach offiziellen Angaben lebt derzeit knapp eine Million Venezolaner in Kolumbien. Zuletzt seien täglich mehr als 30.000 Venezolaner über die Grenze gekommen, heißt es. Zudem gingen Tausende nach Brasilien, Ecuador, Peru oder Chile. Angesichts der Ausmaße des Flüchtlingsstroms forderte Kolumbien von den Vereinten Nationen die Einrichtung eines humanitären Hilfsfonds.
Familie Perl hatte Glück. Seine Schwester war bereits drei Jahre zuvor nach Kolumbien gekommen; ein Cousin seines verstorbenen Vaters hat ihm die Eingewöhnung erleichtert. Diesem hilft er bei dessen Geschäften. Beinahe die gesamte Familie hat mittlerweile Venezuela verlassen – und lebt heute in alle Welt verstreut.
Man müsse zwischen Auswanderern und Flüchtlingen unterscheiden, gibt Adri Abramovitz zu bedenken. Auswanderer, und dazu zählen in der Regel jüdische Venezolaner, gingen freiwillig, Flüchtlinge dagegen verließen wegen der wirtschaftlichen und sozialen Krise das Land, und das meist spontan, sagt die 26-jährige Journalistin aus Caracas.
Marcos Peckel, Universitätsprofessor mit deutschen Wurzeln und Vorsitzender der Confederación de Comunidades Judías de Colombia, des Dachverbandes der kolumbianischen Juden, bestätigt diese These. Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde hätten das Land bereits vor Jahren verlassen.
Der Aderlass setzte bereits vor zwölf bis 15 Jahren unter dem damaligen Präsidenten Hugo Chávez ein. «Die jüdische Gemeinde in Venezuela hatte einmal rund 25.000 Mitglieder, heute sind vielleicht noch 6000 übrig», sagt Peckel. «Die meisten sind nach Israel gegangen, oder in die USA, aber auch nach Japan, Panama, Costa Rica, Peru.» In der Regel sei dies eine überlegte und organisierte Entscheidung.
Verdienst So auch bei Abramovitz. Seit Längerem schon spielte sie mit dem Gedanken, wegzugehen. Sie hatte gerade die Uni beendet, arbeitete beim Fernsehsender Globovisión. Die Arbeit machte ihr Spaß, aber der Verdienst reichte vorne und hinten nicht. Sie war zuvor mehrmals in Kolumbien gewesen, hatte dort viele Freunde und Bekannte. Vor drei Jahren entschied sie sich dann, nach Bogota zu gehen.
«Venezuela und Kolumbien haben viele Gemeinsamkeiten; die Küche ist sehr ähnlich. Und Kolumbien erlebt gerade einen spannenden politischen Moment mit dem Friedensprozess.» Sie fühlt sich wohl in der kolumbianischen Hauptstadt, arbeitet sowohl als Journalistin über politische Themen als auch in der Werbung.
Auch ihre Eltern werden demnächst wohl Venezuela verlassen. Die Familie väterlicherseits stammt aus Ungarn und Rumänien; ihre Mutter wurde auf Kuba geboren, verließ nach dem Triumph der Revolution als damals Achtjährige mit ihren Eltern aber die Insel Richtung Venezuela. Nun bereiten sie die Ausreise in die USA vor.
Erdöl «Nicht jeder hat die Möglichkeit, geordnet auszuwandern», sagt Peckel. Diejenigen, die jetzt fliehen, seien die Armen und gingen wegen der großen wirtschaftlichen Not. Denn seit mehreren Jahren schon steckt Venezuela in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Regierung macht dafür den «Wirtschaftskrieg» der Oligarchie und ausländischer Mächte, allen voran die USA, verantwortlich. Viele Probleme jedoch sind hausgemacht. Venezuela erwirtschaftet mehr als 90 Prozent seiner Exporteinnahmen mit Erdöl. Der Ölpreisboom nach der Jahrtausendwende spülte Rekordsummen in die Staatskasse; davon wurden zahlreiche Sozialprogramme finanziert.
Im Jahr 2014, kurz nach dem Amtsantritt von Nicolás Maduro, stürzte der Ölpreis in den Keller, die Staatseinnahmen sanken. Strikte Preis- und Devisenkontrolle, Korruption und Kapitalflucht verschärften die Probleme noch, die Schwarzmarktkurse gingen durch die Decke. Statt in die Produktionskapazitäten des staatlichen Ölkonzerns Petróleos de Venezuela S.A. zu investieren, stopfte die Regierung nur noch Haushaltslöcher. Die Folge: ein drastischer Produktionsrückgang.
Inflation Heute herrscht Hyperinflation. Der Weltwährungsfonds IWF erwartet für dieses Jahr eine Rekordinflation von einer Million Prozent. Die Wirtschaft könnte um 18 Prozent schrumpfen. Der monatliche Mindestlohn in Venezuela reicht kaum für ein Sandwich und einen Kaffee, aber theoretisch ist es möglich, dafür mehrere Millionen Liter Normalbenzin zu kaufen. Surreale Zustände.
«Es ist eine schlimme Situation», sagt Peckel, «Tausende Venezolaner kommen jeden Tag, viele betteln in den Straßen um Almosen.» Die jüdische Gemeinde habe Hilfsprogramme auch für nichtjüdische Venezolaner aufgelegt, ermögliche Flüchtlingen Krebsbehandlungen. Darüber hinaus gebe es Unterstützung für jüdische Ankömmlinge, man helfe bei der Schulanmeldung, beim Eintritt in die Synagoge oder der Eröffnung eines Bankkontos und beim Abschluss eines Telefonvertrages.
«Wegen der Situation in Kolumbien, den fehlenden Arbeitsplätzen, sind nicht viele hierhergekommen», sagt Peckel. «Im Verhältnis von Einkommen zu den Lebenshaltungskosten ist Kolumbien eines der teuersten Länder Lateinamerikas.» Vielleicht 30 jüdische Familien mit Kindern seien nach Kolumbien gekommen, schätzt Peckel, davon der Großteil nach Bogota. In der Regel seien sie gut integriert.
Gemeinde «Wir sind mit offenen Armen empfangen worden», sagt Perl, der sich aktiv am Leben der kleinen Gemeinde beteiligt. Abramovitz dagegen geht nur zu wichtigen Feiertagen in die Synagoge. Sie sei nicht sehr religiös, sagt sie. Peckel hat sie über ihre Arbeit kennengelernt. Auch ihre Vermieter sind Juden, sonst habe sie mit der Gemeinde aber nur am Rande zu tun.
«Ich verfolge sehr aufmerksam, was in Venezuela passiert. Obwohl viele Freunde weggegangen sind, gibt es natürlich noch Kontakte», sagt sie. Irgendwann würde sie gern zurückkehren.
Auch Perl vermisst Venezuela. «Ich will zurück – falls die Regierung wechselt. Aber ich glaube nicht, dass das bald sein wird.»