Ein Gesetzentwurf soll die Sterbehilfe ermöglichen. Das führt zu Diskussionen, auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft
Sterbehilfe könnte in England und Wales bald ganz legal sein – vorausgesetzt, das Unterhaus stimmt am 29. November einem Gesetzentwurf der Labour-Abgeordneten Kim Leadbeater zu, der vorsieht, dass todkranke Menschen mit einer Lebenserwartung von nicht mehr als sechs Monaten einen entsprechenden Antrag stellen können.
Demnach sollen die Gutachten zweier Ärzte, die mit einem zeitlichen Mindestabstand von sieben Tagen verfasst sein müssen, sowie die Zustimmung eines Oberrichters reichen. Sie müssen sowohl die voraussichtliche Lebenserwartung der Person bestätigen und bezeugen, dass sie sich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte befindet und die Entscheidung zur Sterbehilfe freiwillig, ohne äußeren Druck zustande gekommen ist.
Auch dürfen Ärzte ihre Mitarbeit verweigern, falls sie moralische Bedenken haben. Die tödliche Dosis müssen die Antragsteller selbst einnehmen. Ihnen darf nur gezeigt werden, wie das Ganze funktioniert. Zum Widerruf reicht eine mündliche Erklärung. Damit will man den Beispielen in der Schweiz, Kanada, Australien, Neuseeland, Belgien und den Niederlanden folgen, wo unheilbar Kranken die Möglichkeit gegeben wird, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen.
Über den Gesetzentwurf gab es bereits heftige Debatten, auch in der jüdischen Gemeinschaft. »Die Last auf den Schultern unserer verletzlichsten Patienten, ihrer Familien und des Krankenhauspersonals, aber auch der hohe Gewissensdruck für die Hinterbliebenen sind ein zu hoher Preis«, glaubt der britische Oberrabbiner Ephraim Mirvis. Die Befürchtung ist, dass ein moralisches Prinzip über den Wert des menschlichen Lebens aufgegeben werde.
»Warum Menschen mit unerträglichen Schmerzen dazu zwingen, am Leben zu bleiben?«
Für Jeremy Gordon, Rabbiner der New London Synagoge, war das Thema so wichtig, dass er eine öffentliche interreligiöse Diskussionsrunde organisierte. Keiner der vier geladenen Experten befürwortete die Sterbehilfe. Sie alle verwiesen auf das Problem, eine akkurate Prognose über die Lebenserwartung zu erstellen. Auch die Frage, ob eine Person wirklich frei von äußerem Druck sei, wäre schwer zu beantworten.
»Die Sicherheitsmechanismen sind hauchdünn«, meint Gordon. »Ich habe immer wieder von Angehörigen gehört, dass sie das Leid der Schwerkranken beenden wollen. Doch nachdem sie die hervorragende palliative Versorgung erlebten, beobachtete ich sowohl bei Sterbenden als auch bei deren Angehörigen eine Akzeptanz, einen Meinungsumschwung.« Außerdem sei es heute bereits möglich, lebensverlängernde Maßnahmen abzulehnen und jemandem so schmerzvolle Tage zu ersparen.
Eine andere Position vertritt hingegen Rabbiner Jonathan Romain. Seinen Beobachtungen zufolge würden viele Sterbende in palliativen Einrichtungen ihre Meinung zur Sterbehilfe ändern. Denn neben manchem »wundervollen Tod« stünde auch qualvolles Sterben, bei dem Menschen Ärzte immer wieder darum bitten, etwas zu unternehmen, um ihr Leben zu beenden. »In wessen Interesse ist es, Menschen mit unerträglichen Schmerzen dazu zu zwingen, am Leben zu bleiben?«
Es ergebe keinen Sinn, auch nicht hinsichtlich des jüdischen Wertes von Mitgefühl. Es sei arrogant, die Leidenden, nur auf Basis des Glaubens, gegen ihren Willen zum Weiterleben zu zwingen, glaubt Romain. Und anders als Gordon und Mirvis ist er der Meinung, dass der Gesetzesantrag die Möglichkeit der Sterbehilfe ausreichend begrenze und zugleich sicherstelle.
»In Meinungsumfragen befürworten zwei Drittel der britischen Bevölkerung sowie zahlreiche Ärztegruppen und Krankenpflegerorganisationen die Sterbehilfe«, betont Romain.