In den engen Gassen von Karaköy, einem Stadtviertel Istanbuls, bieten Männer links und rechts des Weges ihre Waren an: Steckerleisten, Schraubendreher, Rasenmäher, Farben, Lacke und Pinsel. Oberhalb des Fischmarkts, am Ende einer Sackgasse, liegt in den Räumen der Zulfaris-Synagoge das »Museum der Stiftung des 500-jährigen Jubiläums türkischer Juden«, wie es offiziell heißt.
Seit zehn Jahren erzählt das Jüdische Museum in Istanbul, wie harmonisch das Zusammenleben der Juden und Muslime in der Türkei seit jeher verlief – Konflikte kommen nicht vor. Wer einen Blick auf das muslimisch-jüdische Leben in der Türkei mit seinen Höhen und Tiefen erwartet hat, wird enttäuscht. Die Anschläge auf die große Neve-Schalom-Synagoge in den Jahren 1986, 1992 und 2003 etwa bleiben unerwähnt, trotz der zahlreichen Toten und Verletzten. Das Museum bietet nur einen Flickenteppich der Geschichte. So interessant die geglückten Momente der gemeinsamen Historie sind, so sehr fehlen die Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten.
In der Haupthalle der kleinen Synagoge zeigen Schautafeln die ersten archäologischen Spuren des Judentums in Anatolien aus dem 4. Jahrhundert der Zeitrechnung und die Flucht der sefardischen Juden aus Spanien 1492. Dieses Jahr ist der Bezugspunkt der Quincentennial Foundation, die das Jüdische Museum in Istanbul gegründet hat und betreibt. Der offizielle Gründungsakt der Stiftung fand 1992 statt – pünktlich zum Jubiläum, an dem die jüdische Gemeinschaft Istanbuls 500 Jahre friedlichen Zusammenlebens von Juden und Muslimen in der Türkei feierte.
Sefarden Denn 1492 stach nicht nur Kolumbus zu seiner Reise nach Amerika in See, sondern in diesem Jahr endete auch die fast 800-jährige Herrschaft der Mauren auf der Iberischen Halbinsel. Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón unterzeichneten das sogenannte Alhambra-Edikt. Damit verbannten die katholischen Herrscher alle Juden aus dem Reich, die sich gegen die Zwangstaufe wehrten. Über 50.000 sefardische Juden flohen 1492 über Umwege in die Türkei, wo Sultan Bayezid II. sie willkommen hieß. Denn in den durch Kriege zerstörten Städten des Balkans mangelte es an in Technik, Medizin und Handwerk ausgebildeten Menschen.
In einem kleinen Büro, in dem gerade mal Platz ist für einen Computertisch, zwei Stühle, zwei Regale voller Ordner und ein ausgeblichenes Bild von Atatürk, dem ersten Präsidenten der türkischen Republik, an der Wand, arbeitet Nisya Isman Allovi, die Museumsdirektorin. »Die Gründer der Stiftung ließen die Zulfaris-Synagoge renovieren, die 1992 eröffnet wurde«, erzählt Allovi, »und etablierten darin am 26. November 2001 das Jüdische Museum.« Naim Güleryüz habe die Ausstellung aufgebaut. »Er sammelte viele Gegenstände von Familien, von Synagogen und Institutionen.«
Ausführlich widmet sich die Ausstellung den Jahren nach 1933 und erzählt, dass die Türkei die vor den Nazis fliehenden deutschen Juden mit offenen Armen aufgenommen habe. Wissenschaftler seien besonders willkommen gewesen. »Die türkische Republik bemühte sich darum, den Akademikern die Forschung und Lehre an den hiesigen Universitäten zu erleichtern«, berichtet die Museumsdirektorin. »Da die Professoren kein Türkisch sprachen, wurde ihnen drei Jahre lang ein Assistent zur Seite gestellt, der ihre Vorlesungen und Veröffentlichungen übersetzte.«
Naim Güleryüz – der nicht nur Kurator der Ausstellung ist, sondern auch Präsident der Stiftung – sitzt im Museumsshop an einem großen Schreibtisch. Hinter dem weißhaarigen Mann steht eine große Glasvitrine voller Bücher, vor ihm befinden sich Briefe, Papiere, Telefon. Der Jurist preist die Türkei als vorbildlichen, toleranten Staat: »Die Türkei bot Menschen, die fliehen mussten, stets Schutz.«
Studie Diese Lesart der Geschichte, der zufolge die Türkei uneingeschränkt als Retterin der verfolgten Juden auftrat, ist zwar verbreitet, wurde jedoch bereits 2008 von Corry Guttstadt infrage gestellt. Die Historikerin zieht in ihrer Studie Die Türkei, die Juden und der Holocaust, die auf umfangreichen Recherchen und Quellenauswertungen in zahlreichen Archiven beruht, eine bittere Bilanz: Während viele türkische Diplomaten die Neutralität der Türkei genutzt hätten, um sich für die Freilassung verhafteter Juden einzusetzen und ihnen das Leben zu retten, »war die Politik Ankaras in erster Linie darauf ausgerichtet, eine Einwanderung oder Remigration von Juden in die Türkei zu verhindern. Schon während der 30er-Jahre hatte die Türkei vielen im Ausland lebenden Juden die Staatsbürgerschaft entzogen«, so Guttstadt. »Als Staatenlose gehörten die vormals türkischen Juden zu den ersten Opfern der Deportationen in den Tod.«
Guttstadt stellt einerseits klar, dass »eine Kritik der türkischen Haltung keinesfalls zur Relativierung der deutschen Verbrechen missbraucht werden« dürfe. Andererseits sei es »bis heute nicht zu einer tatsächlichen Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse« gekommen. Die Türkei benutze die Stiftung, um sich von jüdischer Seite einen Persilschein ausstellen zu lassen, während die Regierung den Genozid an den Armeniern und die Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten leugne.
Nationalismus Tatsächlich besteht in der Türkei noch viel Aufklärungs- und Forschungsbedarf zum türkischen Nationalismus und dem Umgang mit Minderheiten insgesamt. Solange die türkischen Behörden nicht einmal die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zulassen, kann von gelungener Integration nicht die Rede sein. Das Jüdische Museum in Istanbul verliert kein Wort über steuerliche und andere rechtliche Benachteiligungen der Juden im Osmanischen Reich. Auch die pogromartigen Ausschreitungen im September 1955 bleiben unerwähnt. Der Staat duldete die damaligen Übergriffe nicht nur, sondern lenkte sie wahrscheinlich sogar. Viele Juden sind ausgewandert, heute leben in der gesamten Türkei nicht viel mehr als 20.000. Das Jüdische Museum stellt durch die Lücken in der Geschichte auch die fehlende Meinungsfreiheit in der Türkei zur Schau.