Am Anfang steht eine Warnung. »Erwarten Sie nicht zu viel zu sehen«, sagt die Tourleiterin zu dem kleinen Grüppchen, das sich trotz des Regens eingefunden hat. »Die meisten Gebäude haben heute andere Funktionen.« Tatsächlich sieht man auf der Wanderung durch das »jüdische Den Haag« vor allem Orte, die früher einmal eine Synagoge, eine Schule oder ein jüdisches Wohnhaus beherbergten.
Interessant freilich ist die heutige Nutzung: Am einstigen Sitz der Bankiersfamilie Lopes Suasso liegt nun das Finanzministerium. Aus der Synagoge im früheren jüdischen Viertel wurde nach längerem Leerstand eine Moschee. Und in der monotonen Einkaufsmeile mit allerlei Snackbars fällt die Vorstellung schwer, dass hier früher nur ein einziges Geschäft sonntags geöffnet war: der koschere Lebensmittelladen Mouwes.
Ausstellung Organisiert wird die anderthalbstündige Wanderung vom »Haags Historisch Museum«, das derzeit eine Ausstellung über die jüdische Geschichte der Stadt zeigt. Sie umfasst das Flanierviertel, wo einst die reichen portugiesischen Kaufleute wohnten, die ab dem frühen 17. Jahrhundert vielfach aus Amsterdam nach Den Haag kamen, und das »jüdische Viertel«, wo sich am Ende desselben Jahrhunderts die ärmeren Flüchtlinge aus Deutschland und Osteuropa niederließen.
Die Ausstellung wiederum versieht Daten und Zeitleisten mit Gegenständen, Gesichtern und Anekdoten. Man trifft auf den im 19. Jahrhundert stadtbekannten Buchhändler Jozef Blok, der einst von Vincent van Gogh porträtiert wurde, den Anwalt Michel Henry Godefroi, der als erster Jude Abgeordneter und Minister wurde, und den aschkenasischen Oberrabbiner Saul Halevi, dank dessen Einsatz im 18. Jahrhundert viele Werke jüdischer Gelehrter in Den Haag verlegt wurden.
Vor dem Holocaust lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung der »schönen Stadt hinter den Dünen« bei 5,5 Prozent. 12.000 der 17.000 Juden Den Haags wurden von den Nazis ermordet. Wie mühsam der Wiederaufbau nach der Befreiung war, sieht man auch daran, dass der entsprechende Abschnitt in der Ausstellung sehr klein ist.
Challot Umso auffälliger ist die Rolle, die der besagte Lebensmittelladen Mouwes dort spielt, der zwischen 1949 und 1993 eine jüdische Institution in Den Haag und Umgebung war. Über 20 Jahre später ist es erneut ein solches Geschäft, das in niederländisch-jüdischen Kreisen zum Gesprächsthema wurde. Einen Monat ist es inzwischen her, dass »De kleine croon« seine Pforten öffnete, benannt nach der Adresse Hendrik-Zwaardecroonstraat in einer gänzlich unspektakulären Nachbarschaft im Osten des Den Haager Zentrums. Eine freundliche, weißgelb gestreifte Markise flattert vor dem Schaufenster. Hinter dem Verkaufstresen liegen noch einige Challot.
Chagit Landman, die 26-jährige Inhaberin, hat soeben zwei Bekannte verabschiedet. In den paar Wochen seit der Eröffnung ist der Laden, den sie mithilfe ihres Vaters Avshalom betreibt, ein Treffpunkt geworden. Da Chagit Landman nebenher noch Kommunikation studiert, ist ihr Pensum ziemlich anstrengend. »Aber es ist so gesellig«, schwärmt sie und erzählt von den Spätsommertagen, als die Kunden einfach draußen am Tisch saßen. »Die ganze Gemeinschaft kommt hier zusammen. Man lernt jeden kennen, und ich freue mich immer schon auf Freitag, wenn alle ihre Challa holen.«
Eine koschere Oase in der Wüste zwischen Amsterdam und Antwerpen, das ist »De kleine croon«, wo alle Produkte einen Kaschrutstempel haben. Kidduschwein, Traubensaft und Hühnchen sind die Klassiker, berichtet die Besitzerin. Sie kennt sich aus in der Materie – in Israel leistete sie nicht nur ihren Wehrdienst, sondern arbeitete danach auch an der Supermarktkasse in einem Kibbuz.
Daran wird sie nun täglich erinnert, wenn die Kinder aus der Nachbarschaft kommen und Bamba kaufen, den israelischen Erdnusssnack. Außerdem setzt sie große Hoffnungen in die zukünftigen hausgemachten Spezialitäten ihres Vaters Avshalom, eines Israeli. Hummus, Tahina und Sambal stehen auf der Planungsliste.
Infrastruktur Neue jüdische Infrastruktur, das gibt es – zumal außerhalb Amsterdams – nicht oft in den Niederlanden. Mit dieser Begrenztheit hält Chagit Landman sich nicht lange auf: »Sonst landet man gleich in so einer negativen Atmosphäre.« Eher hofft sie darauf, dass ihre Initiative die Balance hält zwischen der Notwendigkeit, Gewinn abzuwerfen, und einem Beitrag zum jüdischen Sozialleben. »Natürlich muss ich meine Rechnungen bezahlen. Aber es geht auch darum, einen schönen kleinen Laden zu haben, in dem meine jüdische Gemeinschaft zusammenkommt.«
Auch Frank Cohn, ehemaliger Vorsitzender der liberalen Gemeinde Beth Jehoeda, freut sich über die neue Entwicklung. Ein nicht geringer Teil der Gemeinde sind Expats aus Israel, Nord- und Südamerika oder Großbritannien, die nur einige Jahre in der Stadt leben.
Auch Diplomaten finden immer wieder den Weg zur Gemeinde, darunter Botschafter, Attachés oder Angestellte der Internationalen Gerichtshöfe in Den Haag. In der Gemeinde sieht man diesen Einfluss seit jeher als Bereicherung. Stolz betont Cohn, dass Beth Jehoeda, in den Anfangszeiten vom britischen Reformjudentum geprägt, die erste liberale Gemeinde des Landes war.
Viele Mitglieder haben den neuen Laden »De kleine croon« bereits besucht. Als Zeichen eines Aufbruchs will Cohn das aber nicht verstehen. »Unsere Gemeinde war immer sehr aktiv«, sagt er, »und seit wir 1976 hier in die Synagoge der früheren portugiesischen Gemeinde gezogen sind, ist unsere Mitgliederzahl auf mehr als 600 gestiegen.«