Im Jahr 1936 gründen deutsche Juden, die vor den Nazis geflüchtet waren, in Sao Paulo die Kongregation CIP (Congregação Israelita Paulista), errichten ihre Synagoge Etz Chaim, machen durch mutige politische Aktionen, darunter gegen die antisemitisch orientierte Militärdiktatur (1964–1985), auch weltweit immer wieder von sich reden. 2017 ist erneut so ein Moment. Etz Chaim, mitten in der Megacity, die wegen der vielen Konzernfilialen auch »die größte deutsche Industriestadt« genannt wird, hat neben den Rabbinern Michel Schlesinger und Ruben Sternschein jetzt auch eine Rabbinerin – die 30-jährige Fernanda Tomchinsky-Galanternik.
Die Kongregation gilt als liberal, hat aber auch viele Vertreter konservativer Strömungen. Nicht überraschend, dass die Präsenz von »rabina Fernanda« daher auch Befremden auslöst. Wie die Neue brasilianischen Medien sagte, gebe es durchaus bereits Situationen, wo man ihr rät, sich wegen der beim Gottesdienst anwesenden »Familie X und Familie Y« heute besser nicht hoch zu den Rabbinern zu setzen. »Einige Veränderungen werden eher graduell vonstattengehen.« Alles auf einmal, von einem Tag auf den anderen, sei nicht sinnvoll, meint sie. »Die Leute sollen sich hier gut und heimisch fühlen.« Auch auf die Teilnahme an Beerdigungszeremonien verzichtet sie vorerst noch, respektiert die Tradition: »Das sind Momente von sehr hoher Sensibilität.«
Symbol Die CIP-Spitze hat von Anfang an klar und unmissverständlich Fernanda Tomchinsky-Galanternik unterstützt. »Die Frauen können in einer Position der Gleichheit an Gottesdiensten teilnehmen«, so CIP-Präsident Sergio Kulikowsky. »Nichts ist obligatorisch, Frauen ist die egalitäre Teilnahme freigestellt.« Rabbiner Michel Schlesinger sagt über die neue Kollegin: »Wir nehmen sie als gleichwertiges Mitglied auf.«
Für Ariel Stofenmacher, CEO und Vizepräsident des »Marshall T. Meyer Seminary« in Argentinien ist »rabina Fernanda« gar Symbol eines ganz besonderen Charakters des lateinamerikanischen Rabbinerseminars: »Durch sie wird die Schaffung einer brasilianischen jüdischen Identität fortgesetzt.« Denn am Seminar von Buenos Aires machte Tomchinsky-Galanternik ihren Abschluss, studierte zudem zweieinhalb Jahre an der »Conservative Yeshiva« in Jerusalem und ist außerdem Psychologin. Ihr Mann Leandro zählt ebenfalls zum Führungsstab der CIP-Gemeinde.
Bildung Rabina Fernanda leitet die CIP-Bildungsabteilung, befasst sich vor allem mit religiöser Bildung von Kindern, entsprechenden Kursen und Projekten – und kritisiert im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen, dass jüdische Familien die religiöse Erziehung ihrer Kinder allein an eine Schule oder eine Institution wie die ihre delegieren. Ohne Unterstützung von zu Hause, durch die Familie, könne das nicht funktionieren – Spiritualität sei schließlich kein Schulfach. Heranwachsende tiefgründig zu formen, bedeute zudem, Respekt, Verbindlichkeit, Integrität, Kohärenz über konkrete Beispiele zu vermitteln, und nicht nur durch eine Unterrichtsstunde.
»In der heutigen Welt ist es nicht mehr obligatorisch, einer Religion anzugehören, um Teil einer Gesellschaft zu sein«, so die Rabbinerin. Traditionen müssten neu ausgelegt, transformiert werden – besonders in einem facettenreichen sozialen Umfeld. »Traditionellere Religionen, die die heutige Gesellschaft nicht verstehen, haben Schwierigkeiten, sich zu halten. Religion muss allen, nicht nur einigen, zugänglich sein – deshalb darf ihre Sprache nicht eingefroren bleiben, muss aktualisiert werden.«
Herausforderungen Und was hat sich »rabina Fernanda« speziell für den weiblichen Teil der Gemeinde vorgenommen? »Über die Rolle der Frau nur zu reden, praktische Schritte aber zu unterlassen, das geht nicht.« Auf Heranwachsende bezogen, heißt dies etwa bei der religiösen Erziehung, Jungen und Mädchen vor die gleichen Herausforderungen zu stellen. Die Frauen will sie bestärken, Traditionen ebenso in Besitz zu nehmen wie die gesamte Sphäre der Gemeinde. »Allein meine bloße Präsenz und Aktivität dürfte helfen, dass die Leute anders denken, anders agieren.«
Fernanda Tomchinsky-Galanternik fängt nicht bei null an. Denn als erste Rabbinerin in Brasilien wirkte seit 2003 die in Paraguay geborene Sandra Kochmann an Rio de Janeiros Synagoge der »Associação Religiosa Israelita«, bevor sie 2005 nach Israel zog. 2004 war »rabina Sandra« just in der Etz Chaim von CIP in Sao Paulo die erste Frau unter 25 Rabbinern – bei der Konferenz jüdischer Gemeinden Nord- und Südamerikas. Die zweite Rabbinerin Brasiliens wurde die im Lande geborene Luciana Pajecki Lederman, seit 2005 in Sao Paulos Shalom-Gemeinde tätig. Auf ein abgeschlossenes Studium an der Katholischen Universität (PUC) von Sao Paulo folgten bei ihr zwei Jahre Psychologie an Sao Paulos Bundesuniversität (USP) und darauf das »Jewish Theological Seminary« in New York.
Lederman spart nicht mit interessanten Klarstellungen: Männer und Frauen müssten just wegen ihrer Unterschiedlichkeit Zugang zu religiöser Führerschaft haben, damit beide Stimmen gehört werden. »Da die jüdische Tradition über Jahrhunderte durch Männer geformt wurde, hat man die Frau immer als das Andere, Unbekannte, Idealisierte, Mysteriöse, Eigenartige behandelt.« Der Prozess der Fraueninklusion, bei der die Rabbinerweihe für Frauen eine der letzten Etappen sei, werde dies ändern und Raum für Dialog schaffen.
Der heutige jüdische Glaube sei keine biblische Religion, sondern eine der Rabbiner, meint Lederman. »Im Talmud finden wir den Hinweis auf eine Göttin, die Shechinà – häufig präsent in Momenten, in denen das jüdische Volk Tröstung benötigte.«
Konkurrenz Viele jüdische Frauen, so Rabbinerin Lederman, entschieden sich für Karrieren mit viel Konkurrenz und Prestige – und glaubten, das mache glücklich. »Aber dann entdeckten wir, dass dies nicht persönlich befriedigt, dass da etwas fehlt.« Viele hätten in der Religion den Raum für Essenzielles gefunden, für eine andere Art von Reflexion. »Doch heute sehe ich auch viele Männer auf der Suche nach Religion.« In der Geschichte des Judentums, betont Lederman, stachen viele Frauen durch Führungsstärke, Intelligenz und Initiative hervor. Als Beispiele nennt sie Debora, Hannah Rachel Verbermacher und Golda Meir.
Pedro Herz, Bildungspionier und Besitzer von Brasiliens größter Buch- und Kulturkaufhauskette, hat es von der oft rappelvollen, auch sonnabends und sonntags geöffneten »Livraria Cultura« in Sao Paulo nur ein paar Schritte bis zu seiner Synagoge Etz Chaim – seine Eltern Eva und Kurt aus Berlin zählten zu den CIP-Gründern. Ihn bedrückt, dass außerhalb der jüdischen Gemeinden die soziokulturelle Misere des krisengeschüttelten Landes stetig zunimmt, nach seiner Beobachtung die meisten Brasilianer gar nicht mehr verstehen, was sie lesen. »Grauenhaft, wie der Kulturverlust fortschreitet – die Leute können nicht einmal einen kleinen Text lesen und wiedergeben«, klagt er. Für die Bildung des jüdischen Nachwuchses ist mit Rabbinerin Fernanda Tomchinsky-Galanternik jedenfalls gesorgt.