Freitag, 9. Januar 2015. Auf dem Trottoir vor dem kleinen Koscherladen Hyper Cacher an der Porte de Vincennes im Osten von Paris herrscht reges Treiben. Vite, vite, schnell noch ein paar Einkäufe für das Schabbat-Essen erledigen! In Gedanken sind die Kunden schon zu Hause, am festlich gedeckten Tisch bei der Familie.
Plötzlich jedoch, kurz nach 13 Uhr, stürmt Amedy Coulibaly in das Geschäft, bewaffnet mit einem Sturmgewehr. Binnen weniger Minuten bietet der Supermarkt ein Bild des Schreckens. Yohan Cohen, ein 20-jähriger Lagerarbeiter, erliegt sofort seinen Schussverletzungen. Philippe Braham, ein 45-jähriger Informatiker, wird ebenfalls niedergestreckt. Erschossen wird auch François-Michel Saada, ein 63-jähriger Rentner. Der Student Yoav Hattab (21) wird kaltblütig ermordet, als er Coulibaly eine seiner Waffen zu entreißen versucht.
SCHOCK Frankreich befindet sich im Schockzustand. Es ist nicht die erste Untat des Jahres. Zwei Tage zuvor wurden zwölf Redaktionsmitglieder der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« von den Brüdern Kouachi ermordet, tags darauf eine Polizistin.
Es herrschen Zweifel an der Solidarität der Mehrheitsgesellschaft.
Ganz Frankreich solidarisierte sich mit den Opfern. Bald schon marschierten Zehntausende auf der Straße und skandierten: »Je suis Charlie!« Vereint mit denjenigen, die um die im Hyper Cacher getöteten Juden trauerten. »Je suis Juif! Je suis Hyper Cacher«, wurden die Rufe laut auf den republikanischen Märschen.
Am 10. November sollen die Urteile gefällt werden.
Seit vergangener Woche steht Frankreich erneut im Zeichen der Attentate. Der Prozess gegen die Täter hat am 2. September begonnen, am 10. November sollen die Urteile gefällt werden. Es ist ein Kraftakt der Justiz mit mehr als 200 Nebenklägern und Tonnen von Akten und Beweismaterial.
Der Prozess ist symptomatisch für einen Terror, der omnipräsent, aber kaum greifbar ist. Ein Phantom des Terrors sitzt hier auf der Anklagebank, denn drei der 14 Angeklagten sind abwesend. Die Brüder Kouachi und Coulibaly sind tot, drei der Angeklagten im syrisch-irakischen Gebiet verschollen.
helfershelfer Dennoch ist der Prozess mehr als nur ein »Prozess der zweiten Messer«, der Helfershelfer, wie er auch genannt wird. Der Ruf und die Handlungsfähigkeit der Nation stehen auf dem Spiel – und auch die Erinnerung an die jüdischen Toten. Patrick Klugman, Anwalt der überlebenden Geiseln des Hyper Cacher, bezieht eine eindeutige Position hinsichtlich der Toten: »Ich möchte sie rehabilitieren als lebendige Erinnerung, als Opfer.« Vor allem aber möchte er über ein Wort sprechen, das in diesem Zusammenhang nicht mehr erwähnt wird: Antisemitismus.
Die Täter wussten, »dass man Juden treffen würde, zu einem Zeitpunkt, der ihnen heilig ist, einem familiären Moment auch«.
Wie nimmt die jüdische Gemeinde in Frankreich diesen Prozess wahr? Vertraut man Recht und Gesetz, wenn man in täglicher Angst lebt? Laut einer Umfrage verurteilen rund 25 Prozent der Muslime das Attentat nicht. Auch Teile der französischen Linken, darunter die Schriftstellerin Virginie Despentes, zeigten ein befremdliches Verständnis für die Täter. Richard Malka, Anwalt von »Charlie Hebdo«, spricht von »intellektueller Komplizenschaft.«
geiseln In dieser feindseligen Atmosphäre fällt es schwer, sich als jüdischer Überlebender zu äußern. Nur zwei oder drei von Klugmans Klienten werden eine Zeugenaussage machen, die anderen ehemaligen Geiseln schweigen aus Furcht, der Terror könne sie erneut einholen.
Eine Kassiererin des Hyper Cacher, Zarie Sibony, wird dennoch aussagen. Ihr Anwalt, Elie Korchia, sagte der Zeitung »Libération«: »Vier Stunden lang ist sie die bevorzugte Ansprechpartnerin Coulibalys gewesen.« Nur dank des familiären Rückhalts habe sie diese Krise überstehen können.
Nur wenige jüdische Zeugen werden aussagen. Die meisten haben Angst.
Hochsicherheitsvorkehrungen im neuen Pariser Justizpalast sollen den Schutz auch schwer traumatisierter Menschen gewährleisten. Aufgrund seiner historischen Bedeutung wird der Prozess gefilmt und für die Nachwelt dokumentiert.
NAGELPROBE Doch es herrschen Zweifel an der Solidarität. Hätte sich die französische Gesellschaft in diesem Maße mobilisiert, wenn nur ein jüdisches Lebensmittelgeschäft betroffen gewesen wäre?
Viele Mitglieder der Gemeinde wollen es auf diese Nagelprobe nicht ankommen lassen. 8000 Franzosen haben im Jahre 2015 Alija gemacht. Bruno Smia, Präsident der Synagoge von Vincennes-Saint-Mandé, kann die Sorge der Auswanderer nachvollziehen: »Ein französischer Bürger jüdischer Religion ist kein Citoyen wie jeder andere. Die Tatsache, dass er Jude ist, genügt bereits, dass er zur Zielscheibe wird«, sagte er der »Libération«.
Marc Krief hingegen, Rabbiner der Gemeinde in Vincennes, lehnt den rein jüdischen Fokus ab: »Ich betrachte diesen Prozess nicht als einen jüdischen.« Es gehe nicht um Religion, sondern um die französische Gesellschaft.
schutz Kriefs Aussage mag hart klingen, gar befremdlich aus dem Mund eines Rabbiners. Tatsächlich aber ist sie Ausdruck der Gewissheit, dass nur der Universalismus der Moderne und der unbedingte Glaube an den laizistischen Staat den Schutz der jüdischen Gemeinde gewährleisten kann.
Doch dies mutig auszusprechen, ist nach Meinung von politischen Beobachtern unabdingbar in einer Gesellschaft, die durch Partikularinteressen zu zersplittern droht und dadurch zur Zielscheibe derer wird, die mit Maschinengewehren und Messern antreten.