Verwinkelte Gässchen, Lokale, Bars, Restaurants, Läden. Da die Ruprechtskirche, die älteste Kirche der Stadt, mit ihren rauen, romanischen Mauern; wenige Schritte weiter, eine gepflasterte Gasse hinunter in Richtung Donau, die Synagoge.
Das ist das jüdische Viertel in Wien. Ein charmant anmutendes Grätzl am Rande des Zentrums. Genau da platziert, wo das überteuerte Innenstadt-Chichi aufhört und die urbane Realität beginnt. Und wer schon einmal in Wien war, weiß: Hier steht immer Polizei. Je nach Risikoeinschätzung auch schon mal mit Sturmgewehr. Und dennoch ist es ein Viertel, das immer vor allem eines ausstrahlt: Ruhe.
augenzeugen Am Montag aber fielen hier Schüsse. Mindestens vier Menschen wurden in den Gassen dieses Viertels getötet. Einer oder mehrere Täter, so klar ist das noch nicht, schossen wild um sich, gingen von Bar zu Bar, um ins Innere zu feuern. Augenzeugen berichteten von gezielten Schüssen auf Menschen.
Später kam es zu wilden Feuergefechten mit der anrückenden Polizei. Ein Angreifer wurde erschossen. Der Täter trug eine Sprengstoffwesten-Attrappe und war mit einem automatischen Sturmgewehr, einer Pistole sowie einer Machete bewaffnet. Ausgegangen wurde zunächst allerdings davon, dass zumindest einem Täter die Flucht gelang.
Die österreichischen Behörden gehen davon aus, dass islamistische Motive hinter der Tat stehen. Bei dem getöteten Angreifer handelt es sich um einen 20 Jahre alten Mann nordmazedonischer Abstammung. 2018 hatte er versucht, zum sogenannten Islamischen Staat (IS) nach Syrien und in den Irak zu reisen. 2019 war er deswegen zu 22 Monaten Haft verurteilt, dann vergangenen Dezember aber vorzeitig freigelassen worden.
motiv Laut Österreichs Innenminister Karl Nehammer soll er seine Deradikalisierung vorgetäuscht haben. Und der Ort, an dem der oder die Täter das Feuer eröffneten, legt durchaus auch ein antisemitisches Motiv nahe. Nachgewiesen ist ein solches aber nicht. Der IS reklamierte den Anschlag mittlerweile für sich.
Hätte der Täter wenige Stunden früher zugeschlagen, hätte die Sache vermutlich ganz anders ausgesehen.
Noch könne man nicht wirklich sagen, ob der Stadttempel in der Seitenstettengasse tatsächlich auch zu den Angriffszielen gehörte, sagt Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG). Anscheinend war im Zuge der Angriffe zwar vor dem Gebetshaus geschossen, aber nicht versucht worden, in das Gebäude selbst, in dem auch die IKG-Büros untergebracht sind, einzudringen. Auch hatte sich zum Zeitpunkt der Tat niemand in dem Gebäude befunden. »Das ›Alef Alef‹, ein angrenzendes koscheres Restaurant, war geschlossen in Vorbereitung auf den Lockdown; das Abendgebet war vorbei«, sagt Nägele.
Seines Wissens ist unter den Todesopfern und mindestens 17 Verletzten des Anschlags kein Mitglied der jüdischen Gemeinde. Hätte der Täter wenige Stunden früher zugeschlagen, hätte die Sache vermutlich ganz anders ausgesehen. Da wäre aber auch die Polizei in der Gasse präsent gewesen.
PARTYMEILE Das Viertel um die Synagoge, die Seitenstettengasse, ist eine der Partymeilen in der Innenstadt. Lokale, Bars und Restaurants wurden also zum Ziel. Polizeischutz für die jüdischen Einrichtungen in der Gegend gibt es während der Öffnungszeiten der IKG und während der Gebete. Aber nicht darüber hinaus.
Offenbar waren Cafés, Bars und Restaurants im Ausgehviertel nahe der Synagoge das Ziel.
Als einen, der »hinter schusssicheren Scheiben aufgewachsen« ist, bezeichnet sich Bini Guttmann, Präsident der Europäischen Union jüdischer Studierender. »Wir hatten Feuerschutzübungen in der Schule – und wir hatten Terroralarm-Übungen«, erzählt er.
Daher falle die Gemeinde angesichts des jetzigen Anschlags nicht wirklich aus allen Wolken. Aber auch Guttmann verweist auf die nach wie vor unklare Sachlage und fragt: »War die jüdische Gemeinde denn das Ziel dieser Tat?«
ÜBERGRIFFE Tatsache ist, dass sich zuletzt Über- und Angriffe islamistischer Gruppen auf jüdische, aber auch christliche Einrichtungen und Gebetsstätten wie auch politische Gegner – wie kürzlich in Frankreich – in ganz Österreich massiv gehäuft hatten: Erst im Sommer war die Synagoge in Graz Ziel einer ganzen Serie von Angriffen.
Auch der Präsident der jüdischen Gemeinde in Graz, Elie Rosen, wurde von einem Mann direkt angegriffen und entging nur knapp dem Angriff mit einem Holzprügel. Für die Tat verantwortlich war ein Mann syrischer Abstammung.
In Österreich hatten sich zuletzt Angriffe islamistischer Gruppen gehäuft: auf Juden, Christen, unliebsame politische Gegner.
Ebenfalls im Sommer kam es in Wien zu tagelangen Krawallen zwischen türkischen Nationalisten in Allianz mit Dschihadisten, die zum Teil unter Gebrauch islamistischer Parolen Vereinslokale linker Gruppen attackierten. Dann gab es intensivierte Morddrohungen gegen die kurdisch-stämmige Grünen-Politikerin Berivan Aslan – sie steht seit Wochen unter Dauerbewachung durch die Polizei.
MOB Und schließlich hatte sich in Wien seit einigen Tagen die Lage zugespitzt. Erst in der vergangenen Woche hatte ein Mob von rund 50 offensichtlich islamistisch gesinnten Jugendlichen eine Kirche in einem Randbezirk Wiens gestürmt, islamistische Parolen skandiert und war dann vor der Polizei geflohen.
Auslöser war offensichtlich die europäisch-türkische Debatte um Mohammed-Karikaturen. In den vergangenen Wochen hatte es im Zusammenhang damit in Frankreich drei Anschläge gegeben, die Ermittler gehen jeweils von einem islamistischen Hintergrund aus.
Wenngleich Wien bereits früher Ziel palästinensischer und auch linksextremer Terrorkampagnen war – am 29. August 1981 hatte ein Kommando der Abu-Nidal-Gruppe die Synagoge überfallen und zwei Personen getötet, vier Jahre später schossen Attentäter auf den Schalter der israelischen Fluggesellschaft EL AL am Flughafen Wien und töten drei Menschen –, von islamistischem Terror war Österreich bisher weitestgehend verschont geblieben.
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz warnte vor einer Spaltung der Gesellschaft.
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz warnte indes in einer Fernsehansprache vor einer Spaltung der Gesellschaft. »Es muss uns stets bewusst sein, dass dies keine Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen oder zwischen Österreichern und Migranten ist.«
REAKTIONEN Ähnlich äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel. »Der islamistische Terror ist unser gemeinsamer Feind. Der Kampf gegen diese Mörder und ihre Anstifter ist unser gemeinsamer Kampf«, betonte sie. »Wir Deutsche stehen in Anteilnahme und Solidarität an der Seite unserer österreichischen Freunde.«
Sie sei »in diesen schrecklichen Stunden« in Gedanken bei den Wienern und den Sicherheitskräften, so Merkel. Ihr Mitgefühl gelte den Angehörigen der Opfer, den Verletzten wünsche sie vollständige Genesung.
Wie Angela Merkel bezeugten Politiker und Repräsentanten des öffentlichen Lebens weltweit ihre Solidarität mit Österreich, darunter auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. »Mit großer Bestürzung haben wir die Nachrichten vom Terroranschlag in Wien vernommen. Unsere Gedanken sind bei den Ermordeten, unser Mitgefühl gilt ihren Angehörigen«, sagte Schuster am Dienstag. »Den zahlreichen und zum Teil schwer Verletzten wünschen wir rasche und vollständige Genesung! Unser Dank gilt den Einsatzkräften, die noch Schlimmeres verhindert haben!«
SORGE Nach den jüngsten Attentaten in Frankreich hätten jetzt in Wien »erneut Islamisten einen Angriff auf unsere freiheitlichen Demokratien und unsere Werte verübt, dem unschuldige Menschen zum Opfer fielen. Ob auch die Synagoge eines der Anschlagsziele war, ist derzeit unklar. Unabhängig davon steht fest, dass Islamisten religiöse Toleranz und unsere pluralen Gesellschaften verachten. Gerade jetzt müssen wir gemeinsam in Europa noch stärker für unsere demokratischen Werte einstehen und diesem Hass entgegenwirken«, erklärte Schuster.
»Gerade jetzt müssen wir gemeinsam in Europa noch stärker für unsere demokratischen Werte einstehen und diesem Hass entgegenwirken.«
Zentralratspräsident Josef Schuster
Außenminister Heiko Maas schrieb auf Twitter: »Wir dürfen nicht dem Hass weichen, der unsere Gesellschaften spalten soll.« Auch wenn das Ausmaß des Terrors noch nicht absehbar sei, seien die Gedanken bei den Verletzten und Opfern.
Auch Israels Präsident Reuven Rivlin verurteilte die Tat. »Unsere Gedanken und Gebete sind mit den Österreichern, während wir die verabscheuungswürdige Terrorattacke in Wien mit Sorge verfolgen«, schrieb Rivlin am Dienstag bei Twitter.
ANTEILNAHME Spitzenpolitiker in aller Welt zeigten sich betroffen. »Nach einem weiteren abscheulichen Terrorakt in Europa sind unsere Gebete bei den Menschen in Wien«, schrieb US-Präsident Donald Trump am späten Montagabend auf Twitter. Die USA stünden an der Seite Österreichs, Frankreichs und ganz Europas im Kampf gegen Terroristen, einschließlich radikal-islamische Terroristen.
Sein demokratischer Herausforderer Joe Biden twitterte, er und seine Frau Jill beteten nach dem schrecklichen Terrorangriff in Wien für die Opfer und deren Familien. »Wir müssen alle vereint gegen Hass und Gewalt eintreten«, ergänzte er.
Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb auf Deutsch auf Twitter: »Nach Frankreich ist es ein befreundetes Land, das angegriffen wird. Dies ist unser Europa. Unsere Feinde müssen wissen, mit wem sie es zu tun haben. Wir werden nichts nachgeben.«