Marla Topp von der Judea-Mizpah-Synagoge in Skokie, Illinois, braucht keine offiziellen Zahlen, um zu wissen, dass die Reformgemeinden in Schwierigkeiten sind und die Orthodoxie an Boden gewinnt. Sie muss nur einen Blick in ihre Synagoge werfen: Vor ein paar Monaten hat ihre Gemeinde damit begonnen, ungenutzte Räume an eine orthodoxe Schule zu vermieten, deren Schülerzahl stark gewachsen ist.
Die Schule ist nicht der erste Mieter in den Räumen der Reformsynagoge. Einst eine blühende Gemeinde in dem Vorort von Chicago mit 500 Familien, ist die Mitgliederzahl von Judea Mizpah inzwischen auf 180 Familien gesunken. Laut Geschäftsführerin Topp begann die Gemeinde bereits vor mehr als zehn Jahren, leer stehende Räume zu vermieten. Zum Freitagabendgottesdienst, der am besten besucht ist, kommen in der Regel 50 bis 100 Beter. Im September hat die Religionsschule ihren Unterricht von zwei Tagen auf einen Tag in der Woche herabgesetzt.
»Immer weniger junge Familien schließen sich der Reformbewegung an«, sagt Topp. »Durch den demografischen Wandel ist unsere Mitgliederzahl stetig gesunken, und wir mussten Einkommensquellen finden, um weitermachen zu können.«
Trend Viele andere Reform- und konservative Gemeinden in den USA befinden sich in der gleichen Situation. So vermietete die Beth-El-Gemeinde in Phoenix, Arizona, vor drei Jahren zum ersten Mal Klassenzimmer an die Torah Day School, eine streng orthodoxe Schule, die Jungen und Mädchen bereits im Kindergartenalter trennt. Und das Hollis Hills Jewish Center, eine konservative Synagoge im New Yorker Stadtteil Queens, vermietet ungenutzte Räume an die Yeshiva Primary, ebenfalls eine orthodoxe Schule.
Obwohl der Trend nicht neu ist, scheint er sich zu verstärken, denn in immer mehr Reform- und konservativen Gemeinden sinken die Mitgliederzahlen. Und so schrumpfen die Einnahmen, während gleichzeitig viele Räume nicht mehr genutzt werden. Orthodoxe Institutionen sind hingegen auf der Suche nach Platz, um die wachsende Zahl ihrer Mitglieder unterzubringen.
Dieses Phänomen spiegelt die Entwicklung des gegenwärtigen amerikanischen Judentums wider. Zwar gibt es immer noch erheblich mehr konservative und Reformjuden als Orthodoxe, doch deren Zahl wächst. 35 Prozent der amerikanischen Juden identifizieren sich mit der Reform- und 18 Prozent mit der konservativen Bewegung. Doch für beide Richtungen gilt, dass eine Familie im Durchschnitt nur etwa zwei Kinder hat. Als orthodox bezeichnen sich laut einer neuen Umfrage des Pew Research Center unter US-amerikanischen Juden zwar lediglich zehn Prozent, doch diese Familien haben im Durchschnitt vier Kinder.
Gottesdienst Auch im Alter der Mitglieder zeigen sich beträchtliche Unterschiede: Konservative und Reformjuden sind im Durchschnitt knapp 55 Jahre alt, Orthodoxe hingegen nur 40 Jahre. Und nur 17 Prozent der Reformjuden und 39 Prozent der konservativen Juden geben an, dass sie min-destens einmal im Monat den Gottesdienst besuchen – verglichen mit 74 Prozent der orthodoxen Juden.
Vertreter der konservativen und Reformgemeinden wissen um diese Tendenzen. In den vergangenen 20 Jahren verzeichnete sowohl die Union for Reform Judaism als auch die United Synagogue of Conservative Judaism einen Rückgang der Zahl ihrer Gemeinden und Gemeindemitglieder. »So ziemlich alles, was das jüdische Leben, die religiöse Praxis und Führung betrifft, muss einer Prüfung unterzogen werden«, sagt Rabbi Rick Jacobs, Präsident der Union for Reform Judaism. »Das Fundament des Reformjudentums besteht in der Fähigkeit, sich neuen Bedingungen und neuen Situationen anzupassen.«
Für einige Reformgemeinden und konservative Synagogen heißt das unter anderem, dass sie orthodoxen Juden ein Dach anbieten. Die Vorschule von Temple Emeth, einer Reformsynagoge in Teaneck, New Jersey, ist ausgebucht, seit die Verantwortlichen sie den Bedürfnissen von orthodoxen Kindern angepasst haben – die den Reformschülern gegenüber im Verhältnis von drei zu eins in der Mehrzahl sind. Die Schule bietet jetzt Morgengebete an und hat die Wintersemesterpause von Weihnachten auf Ende Januar verschoben, wenn die orthodoxen Jeschiwot Ferien haben.
gewinn »Wir stehen vor einer Herausforderung«, sagt Steven Sirbu, der Rabbiner der Synagoge. Doch er sieht die Vorschule als Gewinn – nicht einmal so sehr, weil sie neues Einkommen generiert, sondern weil sie eine Brücke zwischen Reformjuden und Orthodoxen baut. »Anderswo ist das Reformjudentum für orthodoxe Juden ein absolutes Rätsel. Bei uns sagen auch Orthodoxe »Rabbi« zu mir und haben unsere Reformgemeinde in guter Erinnerung.«
Die schwindende Zahl von Mitgliedern der konservativen Beth-El-Gemeinde in Phoenix ist zum Teil auf die Abwanderung von liberalen Juden in die Vororte zurückzuführen. Früher beherbergte die Synagoge eine konservative Schule, später gab es eine nicht konfessionsgebundene jüdische Schule, und schließlich wurde die Einrichtung ganz geschlossen.
Seit drei Jahren hat die orthodoxe Torah Day School bei Beth El Räume angemietet. Am Anfang waren es 40 Schüler, heute sind es 180. Es ist so eng geworden, dass sechs Container für den Unterricht aufgestellt wurden, die zwölf zusätzliche Klassenzimmer bieten. Die Gemeinde vermietet auch Platz an einen kleinen orthodoxen Minjan – und am Samstagnachmittag nutzt eine Kirchengemeinde, die den Schabbat hält, den Gottesdienstraum.
»Viele der Synagogen wurden Mitte des 20. Jahrhunderts gebaut und trugen dem damaligen Mitgliederstand Rechnung«, sagt Rabbi Arthur Lavinsky von Beth El. Doch nachdem immer mehr Leute in die Vororte gezogen sind, seien die Gebäude zu groß geworden für die heutigen Bedürfnisse. »Aber es ist doch eine Mizwa, anderen jüdischen Strömungen Räume zur Verfügung zu stellen«, findet er. »Wir sind ein Volk. Wenn wir uns gegenseitig helfen können, ist das doch eine gute Sache.«