Frankreich

Tausendfaches Gedenken

Bei der Gedenkveranstaltung am 28. März in Paris Foto: Getty Images

Hat der brutale Mord an der 85-jährigen Jüdin und Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll, die am 13. März in Paris erstochen und in ihrer Wohnung teilweise verbrannt wurde, das gesellschaftliche Klima in Frankreich verändert?

Staatspräsident Emmanuel Macron erschien immerhin persönlich und unangemeldet bei ihrer Beerdigung, und Innenminister Gérard Collomb fand in der Nationalversammlung starke Worte: »Juden habe heute in Frankreich Angst«, dies dürfe nicht sein.
Alain Finkielkraut sagt, der Fall habe aufgerüttelt: »Wegschauen ist heute nicht mehr möglich.«

Galina, Ende 40, ist eine Anwältin jüdisch-marokkanischer Herkunft. Sie sagt, die Beteiligung von Tausenden von Menschen am Gedenkmarsch (»marche blanche«), den der jüdische Dachverband CRIF und mehrere Menschenrechtsorganisationen am Abend des 28. März für Mireille Knoll in Paris organisierten, stimme sie relativ optimistisch. Auch in anderen Städten Frankreichs versammelten sich Tausende von Menschen zum Gedenken an Mireille Knoll.

Halimi »Ich erinnere mich an den Mord an dem jungen Juden Ilan Halimi vor zwölf Jahren. Damals war die Demons­tration, die zur Pariser Place de la Nation führte, vorwiegend jüdisch geprägt. Dieses Mal hatte ich den Eindruck, dass die Beteiligung an dem Gedenkmarsch wesentlich gemischter war«, sagt Galina.

Ähnliches hatte zuvor auch der französisch-jüdische Philosoph Alain Finkielkraut – seit dem vergangenen Jahr Mitglied der Gelehrtengesellschaft Académie française – geäußert. In seinen Worten waren damals »nur Juden auf der Straße, das ist heute nicht der Fall. Der Mord an Mireille Knoll hat aufgerüttelt. Ein Wegschauen ist heute nicht mehr möglich.« Das sind eher seltene optimistische Worte für Finkielkraut, der in der Vergangenheit vom revolutionär orientierten Ex-68er zum pessimistischen Schriftsteller wurde, der viel über Kulturverfall schreibt.

Roland sieht im Gegensatz dazu weiterhin eine negative Gesamttendenz in seinem Land. Der Lehrer wartet auf seine Pensionierung, um aus Frankreich auszuwandern, aller Wahrscheinlichkeit nach, um sich in Israel niederzulassen. Er sagt, er selbst sei zwar noch nie zum Opfer einer antisemitischen Aggression geworden.

Kippa Doch um sich herum beobachte er, dass Familienmitglieder religiöse Symbole versteckten oder ihre Kippa in der Öffentlichkeit nicht länger trügen: »In den 80er-Jahren war es viel einfacher für uns, damals war der potenzielle Feind klar ausgemacht: Die extreme Rechte rund um Jean-Marie Le Pen – der tendenziell den Holocaust leugnete – war der Verursacher von Problemen für die Juden. Heute ist der Hass diffundiert und erfasst auch ganz andere Kreise.«

Juden könnten zum Ziel von geldgierigen Kriminellen, die sie automatisch für reich hielten, oder auch von manchen Einwandererkindern werden, konstatiert Roland. Letztere machten die jüdische Minderheit als »privilegiert« aus – und dafür verantwortlich, dass sie selbst nicht vorankommen, sondern Opfer von Diskriminierungen bleiben. Der Comedian Dieudonné M’bala M’bala mit seinen antisemitischen Reden verlieh dieser Tendenz in den vergangenen zehn Jahren eine Stimme.

Extremisten
Albert, ein Arzt jüdisch-polnischer Herkunft, Mitte 60, sieht aus dieser Ecke ebenfalls Gefahren. Dennoch ist der Teilnehmer des Gedenkmarschs in Paris der Auffassung, die Trennlinie zur extremen Rechten als besonderer politischer Kraft müsse wieder schärfer gezogen werden.

Er bedauert es, dass die Leitung des jüdischen Dachverbandes CRIF im Vorfeld des »marche blanche« die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen und den Links­populisten Jean-Luc Mélenchon in einen Topf geworfen habe, indem er die beiden im selben Maße für unerwünscht erklärt hatte.

Beide Politiker nahmen jedoch letztendlich teil, beide wurden – jedoch aus unterschiedlichen Gründen – daraufhin verbal angegriffen. Mitglieder der rechtsradikalen »Jüdischen Verteidigungsliga« LDJ, französischer Ableger der (in den USA und Israel verbotenen) Kach-Bewegung, hatten den Linkssozialisten Mélenchon bedrängt, jedoch Marine Le Pen gegen die eher spontanen Proteste wegen ihrer Anwesenheit beschützt.

Daniel Knoll, Sohn der ermordeten Mireille Knoll, hatte daraufhin in einer viel zitierten Stellungnahme für Toleranz gegenüber allen Teilnahmewilligen plädiert: Man dürfe niemanden abhalten. Er erklärte, wenn Mélenchon und Le Pen sich ernsthaft beteiligen wollten, seien beide willkommen.

Der Arzt Albert dagegen hält beide Positionen für problematisch und ist der Auffassung, auch wenn Marine Le Pens Partei, der Front National (FN), heute eher gegen Einwanderer und Muslime agitiere, habe sie doch ebenfalls eine klar vom Antisemitismus geprägte Geschichte. Ihre Gründergeneration habe teilweise direkt mit der Nazi-Kollaboration von 1940 bis 1944 zu tun gehabt. Es sei falsch, einen Mantel des Vergessens darüber zu breiten. Diese Frage wird heute in jüdischen Kreisen und darüber hinaus heftig debattiert.

Mörder Unterdessen wurden die beiden Mörder von Mireille Knoll identifiziert. Sie befinden sich in Untersuchungshaft und warten auf ihren Prozess. Es handelt sich um den 27-jährigen Yacine Mihoub sowie den 21-jährigen Obdachlosen Alex Carrimbacus. Beide lernten sich vor einigen Monaten im Gefängnis kennen.

Ein unmittelbar politisch-ideologisches, etwa islamistisches Tatmotiv scheidet laut Auffassung der Ermittler aus. Die beiden Täter waren nicht nur unterschiedlicher Herkunft, beide praktizierten auch keine Religion. Mihoub gilt als schwerer Alkoholiker und soll nach Auskunft eines der Söhne des Opfers – Alain Knoll, der ihm am Nachmittag vor der Mordtat noch in der Wohnung seiner Mutter begegnet war – eine Portweinflasche zu drei Vierteln allein ausgetrunken haben.

Dem Sohn war es sehr unwohl in der Gegenwart dieses Nachbarn, den Mireille Knoll seit dessen Kindertagen kannte. Er verließ ihre Wohnung erst, als die Haushaltshilfe der Mutter bei ihr eintraf, sodass sie nicht allein blieb. Mihoub kehrte jedoch offensichtlich später dorthin zurück, zusammen mit dem gesellschaftlichen Außenseiter Carrimbacus.

Beide teilten ein Tatmotiv, das unmittelbar materieller Natur ist, jedoch klar erkennbar auf einem antisemitischen Motiv beruht. Denn beide waren davon überzeugt, dass bei Mireille Knoll Geld zu finden sein müsse, eben aus dem einen Grund, weil sie Jüdin war.

Sozialwohnung
Dies war aber nicht der Fall, die alte Dame lebte in einer städtischen Sozialwohnung und von einer nicht gerade üppigen Rente – sie erhielt rund 800 Euro im Monat an sozialer Unterstützung. Die Ermittler nahmen deswegen umgehend ein antisemitisches Motiv als taterschwerendes Mordmerkmal in die Akten auf.

In der Vergangenheit, etwa nach dem Mord an Sarah Halimi im April 2017, hatten die Behörden dieses Tatmotiv erst nach monatelangem Zögern in die Anklage mit aufgenommen. Durch ihr relativ schnelles Handeln nach dem Mord an Mireille Knoll versuchten sie offenbar, auf diesbezügliche Kritik zu reagieren.

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