Für James O’Connell und seine Frau Stephanie Mandelblum gehört gemeinnütziges Engagement zum Judentum. Gemeinsam mit anderen jungen Menschen versammelten sie sich kürzlich in Venice Beach. Mit langen Greifzangen und einer Smartphone-App zur Katalogisierung der Ausbeute ausgestattet, befreiten sie den Strand von Müll und anderen menschlichen Hinterlassenschaften.
Kurz vor den Hohen Feiertagen hatten das Jewish Youth Climate Movement und Repair the World LA zum sogenannten Reverse Tashlich (»Taschlich anders herum«) eingeladen. »Es fühlt sich gut an, kurz bevor sich das Buch des Lebens symbolisch schließt, etwas Gutes zu tun«, sagt O’Connell, der als Berater für umweltbewusstes Wirtschaften arbeitet.
heilung Für die meisten der rund ein Dutzend jungen jüdischen Menschen war es das erste Mal, dass sie an einer Strandsäuberung im Rahmen von Reverse Tashlich teilnahmen. Das Konzept dachte sich vor sechs Jahren der amerikanische Rabbiner Ed Rosenthal aus. Mit seiner Organisation Tikkun HaYam (Heilung des Meeres) hat der heute 63-Jährige eine Umweltorganisation gegründet, die sich um Wasser und um die Meere kümmert. Seinen Angaben zufolge ist es die einzige jüdische dieser Art.
Das Konzept hat sich der amerikanische Rabbiner Ed Rosenthal ausgedacht.
»Das Wasser ist die Grundlage für alles«, sagt Rosenthal. »Wer die Welt retten will, muss mit dem Wasser anfangen.« Für den Rabbiner, der seine Smicha vom Hebrew Union College, der Rabbinerschule des Reformjudentums, erhalten hat, erwächst sein Einsatz für die Erhaltung der Meere aus dem Glauben. »In Psalm 95 steht, das Meer gehört Gott«, erklärt er. »Den Menschen wird die Erde gegeben, doch Gott behält das Reich des Wassers.«
Der passionierte Taucher fühlt sich Gott am nächsten unter Wasser. Das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen, erlebte der in St. Louis im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten aufgewachsene Rosenthal zum ersten Mal 1982, als er sich im Rahmen seiner Rabbinerausbildung ein Jahr in Israel aufhielt. Aus Neugier nahm der damals 22-Jährige an einem Tagesausflug auf die Sinai-Halbinsel teil. Die Gruppe wanderte durch die Wüste bis zum Roten Meer in der Nähe von Scharm El-Scheich. Dort ging Rosenthal zum ersten Mal Schnorcheln.
»Das Meer schien grenzenlos«, erinnert er sich. Er habe zurück in Richtung der Wüste geblickt, wo ihm alles braun und leblos erschien. »Dann steckte ich meinen Kopf unter Wasser und sah ein komplett anderes Universum! Ich sah viele verschiedene Arten von Fischen und Korallen in Farben, die ich mir nicht einmal erträumt hätte.«
TAUCHSCHEIN Seit er als Kind Fernsehserien des französischen Meeresforschers Jacques Cousteau sah, zog ihn die Unterwasserwelt in ihren Bann. Mit 16 bat er seine Mutter um Erlaubnis, seinen Tauchschein zu machen. Die zögerte nicht lange – und lehnte ab mit den Worten: »Wenn Gott gewollt hätte, dass wir uns unter Wasser aufhalten, hätte er uns Kiemen gegeben.«
Nach dem Studium arbeitete Rosenthal zunächst als Gemeinderabbiner in Texas und Neuseeland, bevor er nach Tampa Bay, Florida, zog, um an der dortigen Universität die Leitung der jüdischen Studentenorganisation Hillel zu übernehmen. Auf der Suche nach Themen und Aktivitäten, die junge jüdische Studenten ansprechen, gründete er einen Tauchklub und nannte ihn Scubi Jew, in Anlehnung an eine beliebte Zeichentrickserie.
Während einer dieser Veranstaltungen erklärte der Rabbiner seinen jungen Zuhörern den Sinn von Taschlich, einem Ritual, bei dem Menschen symbolisch ihre Sünden ins Wasser werfen. Ein Student wandte ein, dass es im Meer schon genug Gegenstände gebe, die dort nicht hingehörten, und fragte: »Warum holen wir sie nicht heraus?« Rosenthal war begeistert von der Idee: »Wir machen ein umgekehrtes Taschlich!«
Beim ersten Versuch 2016 säuberten fünf Studenten und er den direkt am Golf von Mexiko gelegenen Campus. Sie sammelten sechs große Müllsäcke voller Unrat. Ein Jahr später waren es schon zehn Studenten.
israel-reise Tikkun-HaYam-Mitarbeiterin Shayna Cohen lernte Rosenthal auf einer Israel-Reise der Bildungseinrichtung Birthright kennen, wo der Scubi-Jew-Gründer mit den Teilnehmern Tauchausflüge ans Mittelmeer und ans Rote Meer machte. Cohen wuchs auf Hawaii auf und fühlte sich schon immer im Wasser zu Hause. Auf der Reise bemerkte die junge Frau, dass es eine tiefere Verbindung zwischen ihrer Liebe zum Meer und ihrer jüdischen Herkunft gab. »Das hat mich dem Judentum näher gebracht als alles andere«, sagt sie.
»Den Menschen wurde die Erde gegeben, doch Gott behält das Reich des Wassers.«
Rabbiner Ed Rosenthal
Die heute 28-Jährige ist maßgeblich dafür mitverantwortlich, dass sich Reverse Tashlich seit einigen Jahren auf der ganzen Welt verbreitet. Dieses Jahr zogen in 22 Ländern Einzelpersonen und Gruppen los, um Strände und Flussufer von Müll zu befreien: von Australien über Moldawien und Portugal bis zur Ukraine, in der sich trotz Krieg sechs Gruppen zusammengefunden haben.
Ein Organisator aus Serbien berichtete ihr, dass es in seiner Heimatstadt Bezdan nicht viele Juden und Jüdinnen gebe. Um zehn Menschen für einen Minjan zu finden, gingen sie deshalb manchmal auf den jüdischen Friedhof. Für Reverse Tashlich empfanden sie es als angemessen, diesen Friedhof, der seit der Schoa vernachlässigt wird, zu entmüllen.
KLIMAWANDEL Es sind Geschichten wie diese, die Rosenthal in dem Glauben bestärken, dass seine Organisation Tikkun HaYam etwas bewegen kann. »Die Meere sterben nicht, wir ermorden sie«, sagt der Umweltaktivist. Der von Menschen gemachte Klimawandel sei eine Gefahr für die Meere und damit für die Lebensgrundlage der Menschen.
»Als Juden haben wir eine Verpflichtung, uns für die Erhaltung der Umwelt einzusetzen«, sagt Rosenthal. Er glaube daran, dass sich Dinge nachhaltig zum Positiven verändern, wenn sich religiöse Gemeinschaften im Allgemeinen und Juden im Besonderen einer Sache annehmen. »Es gibt Zehntausende Umweltschützer und Zehntausende Wissenschaftler, aber es gibt Millionen religiöser Menschen.«
In Deutschland gibt es bislang kein Reverse-Tashlich-Gruppe. Interessenten können sich gern an Rabbiner Ed Rosenthal wenden: rabbied@repairthesea.org