Die Frau in wehendem Rock und weißer Bluse scheint zu fliegen, über die Esplanade du Trocadéro direkt bis zum Eiffelturm. Das große Wandbild zeigt die Tänzerin Paula Padani bei einem Fotoshooting im April 1948 in Paris. Padani führte ihre berühmte Version der »Hora« auf, des traditionellen Freudentanzes der jüdischen Siedler im britischen Mandatsgebiet Palästina. Ebendort, wo Adolf Hitler sich anlässlich der Besetzung der französischen Hauptstadt 1940 fotografieren ließ, ist Padanis Tanz ein Triumph von Lebensfreude und Energie. Anlässlich der Befreiung von Paris vier Jahre später soll sie eine ganze Nacht lang auf den Tischen des berühmten Tel Aviver Künstler-Cafés Kassit getanzt haben.
Die Ausstellung »La Danse migrante« (Migrantentanz) im Jüdischen Museum von Paris feiert das im wahrsten Sinne bewegte Leben der Tänzerin, die so vieles war, unter anderem auch die letzte jüdische Schülerin der deutschen Choreografin Mary Wigman. Nach der Flucht aus Nazideutschland machte Padani sich mit eigenen Choreografien und Soloauftritten im britischen Mandatsgebiet einen Namen. Für viele Holocaust-Überlebende in Europa wurde die »palästinensische Tänzerin« in der Nachkriegszeit zur Botschafterin von Eretz Israel.
Padani wurde 1913 in Hamburg geboren. Die Eltern waren 1910 aus dem polnischen ŁódŹ in die Hansestadt gekommen, wo die chassidische Familie mit sechs Kindern in bescheidenen Verhältnissen lebte, aber zugleich offen war für das moderne kulturelle Klima der Stadt. Der Vater spielte in der Synagoge und auf Festen Klarinette. Die vier Töchter bekamen schon im Kindergartenalter Tanzunterricht, Paula besuchte später auch Kurse in schwedischer Gymnastik, Yoga, klassischem Tanz, Klavierspiel und Gesang.
Mary Wigmans Schülerin
Doch dann starben die Eltern, die Mutter 1921 an Tuberkulose und der Vater vier Jahre später bei einem Unfall. Paula war zwölf, als sie ins Waisenheim musste. Das jüdische Paulinenstift förderte ihre musischen Talente. Sie nahm weiterhin Klavierstunden, und ab 1930 lernte sie modernen Ausdruckstanz in einer Hamburger Filiale von Mary Wigmans Tanzakademie. Nach dem Abitur 1932 setzte sie das Studium bei Wigman selbst in Dresden fort. Wigman gilt bis heute als Pionierin des modernen europäischen Ausdrucktanzes und eine der einflussreichsten Choreografinnen ihrer Zeit. Umstritten ist allerdings ihre Rolle im Dritten Reich. Wigman entließ bereits 1933 jüdische Lehrkräfte und Schülerinnen ihrer Akademie und wirkte als Choreografin an der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 1936 in Berlin mit. »Ich habe Glück gehabt, denn Mary Wigman interessierte sich sehr für mich und hat mir oft Einzelunterricht gegeben«, erinnerte Padani sich im Rückblick. Ihre Abschlussprüfungen zur Tänzerin und Tanzlehrerin bestand sie 1934 mit Bravour, bekam als Jüdin aber kein Abschlussdiplom von Wigman. Auch nicht Jahrzehnte später, als Padani die alte Lehrerin in Briefen mehrfach darum bat.
Zur Befreiung von Paris tanzte sie die ganze Nacht auf den Tischen im Café Kassit in Tel Aviv.
Der jungen Paula gelang mit 22 Jahren die Flucht aus Nazideutschland und – über die Schweiz, Italien, Griechenland und Syrien – 1936 die illegale Einreise nach Palästina. Das britische Mandatsgebiet wurde für die kommenden zehn Jahre zu ihrem Exil. Rund 90.000 deutschsprachige Juden haben in der Zeit zwischen 1933 und 1941 dort Zuflucht gefunden, darunter viele Künstler. Padani baute sich ein neues Leben als Solistin und mit eigener Tanzschule auf. In ihren Choreografien verband sie Elemente jüdisch-folkloristischer Tradition mit dem modernen Ausdruckstanz, griff biblische Themen auf, ließ sich von der Kultur und Landschaft ihrer zweiten Heimat inspirieren.
Ihre Auftritte in den Kibbuzim machten sie im ganzen Land bekannt. Doch trotz des Erfolgs beschloss Padani nach Kriegsende mit ihrem Mann, dem österreichischen Maler, Set-Designer und ehemaligen Bertolt-Brecht-Mitarbeiter Michael Gottlieb, nach Paris zu gehen, wo sie in den Künstlerkreisen um Pablo Picasso, Ossip Zadkine und Natalja Gontscharowa Aufnahme fanden.
124 Vorstellungen in 60 Lagern
Von Paris aus startete Padani auf Einladung des American Joint Distribution Committee (Joint) drei Tourneen durch die US-Besatzungszone im Nachkriegsdeutschland. Sie besuchte sogenannte Displaced Persons Camps und tanzte für die Überlebenden der Schoa. Die Tourneen in den Jahren 1947 und 1948 waren ein großer Erfolg. Padani besuchte 60 Lager in Süddeutschland und gab 124 Vorstellungen vor 140.000 Zuschauern. Wenn die »palästinensische Tänzerin« ihre Version der »Hora« tanzte, wollte das Publikum sie gar nicht mehr von der Bühne lassen, heißt es in Berichten von damals.
Auch das Publikum in Paris war begeistert von Padanis Energie, die sie im Palais de Chaillot genauso auf die Bühne brachte wie im Théâtre Sarah-Bernhardt. Die Menschen waren begeistert, von der Lebendigkeit der jüdischen Kulturszene in Palästina zu erfahren und reagierten vor allem auf Rezitale wie »Schabbat« mit »wahnsinnigem Enthusiasmus«, berichtet das Bulletin »La vie juive« (Das jüdische Leben) von einem ihrer Auftritte Ende 1948. Chassidisch geprägt sei das erste Rezital gewesen, »der perfekte Ausdruck unserer alten traditionellen Tänze: langsam, schwer, majestätisch am Anfang und von rasendem Rhythmus am Ende, eine ausdrucksvolle Manifestation des jüdischen Stolzes und Nationalbewusstseins«.
Höhepunkt war offensichtlich auch an diesem Abend die »Hora«: Damit sei Padani »das lebendige Bild der Wiedergeburt eines ganzen Volkes zur Lebensfreude« gelungen, »eines Volkes, das sein Joch abgeschüttelt hat und sich ganz der Leichtigkeit hingibt, um seine endlich wiedergewonnene Unabhängigkeit zu feiern«. Es ist das Jahr der Gründung Israels.
Ihr gelang das lebendige Bild der Wiedergeburt eines ganzen Volkes.
Es folgte eine lange, ebenso gefeierte Tour durch die USA, bevor Padani nach Paris zurückkehrte. Hier stand sie immer seltener auf der Bühne, vielleicht auch, weil ihre getanzte Lebensfreude wenige Berührungspunkte mit dem Pariser Existenzialismus hatte. Sie konzentrierte sich ganz auf den Tanzunterricht und unterrichtete professionelle Tänzer mit der gleichen Begeisterung wie Anfänger. 1951 wurde Tochter Gabrielle geboren. Padani unterrichtete weiter – bis ins hohe Alter – und blieb der bei Wigman erlernten Improvisationstechnik treu.
Der Anfang des modernen Tanzes in Israel
»Ich tanze jeden Tag«, versichert die grazile alte Dame in einem Video-Zusammenschnitt, der am Ende der Ausstellung zu sehen ist. Padani tanzt ein paar leichte Schritte und hebt dann mit klarer Stimme an, das deutsche Kirchenlied »So nimm denn meine Hände« zu singen. Sie starb 2001, nur kurze Zeit nach ihrem Mann.
140 Fotografien, Plakate, Berichte und Kostüme – eine Schenkung von Padanis Tochter Gabrielle Gottlieb de Gail – staffieren die Reise durch das Leben der »Migranten-Tänzerin« aus. Die erzählt von der Kraft des künstlerischen Aufbruchs nach Jahren von Zerstörung, Tod und Angst – und auch vom Anfang des modernen Tanzes in Israel.
»La danse migrante: Hambourg, Tel Aviv, Paris« ist bis zum 16. November im Musée d’art et d’histoire du Judaïsme (MahJ) in Paris zu sehen.