USA

Talmud, Tora und Transgender

Eine kleine Fee mit Kippa schwebt zum Whiteboard und setzt den Stift an. »Achtung, ich bin bekannt für meine obszönen Zeichnungen«, leitet Leyni ein und skizziert ein heterosexuelles jüdisches Paar. Lautes Lachen. Im Saal sitzen sich etwa 60 Teilnehmer des queeren Talmud-Camps an schmalen Tischen gegenüber. Hinten an der Wand lauschen vier Rabbiner und Lehrer dem Vortrag ihres Kollegen. Auch sie tragen Feenflügel, um sich von den Lernenden abzuheben.

Leynis Zeichnung ist nicht obszön. Der Witz ist ein Insider von LGBT-Menschen (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender), deren eigenes Verhältnis zu Liebe und Sexualität von weiten Teilen der Gesellschaft oft als unschicklich verstanden wird.

Hier im queeren Talmud-Camp in Lake Delton im Bundesstaat Wisconsin lernen für fünf Tage Menschen im Alter von 19 bis 75 Jahre, den Talmud zu dekodieren. Sie übersetzen ihn vom Aramäischen ins Englische und diskutieren über den Inhalt. Welcher jüdischen Strömung die Teilnehmer angehören, spielt hier keine Rolle. Im Camp lernen Rabbiner und Rabbinerinnen gemeinsam mit Menschen, die gerade erst das hebräische Alphabet gelernt haben.

Kontext Damit wirklich jeder den Inhalt versteht, informieren die Lehrenden über den historischen Kontext. »Die Frau und der Mann sind verheiratet«, sagt Leyni. Er steht auf Zehenspitzen, damit ihn alle sehen. Die Feenflügel wippen leicht hin und her. Dann wischt er das Strichmännchen mit der Hose weg und sagt: »Der Mann plant, auf Reisen zu gehen.« Im aktuellen Talmudabschnitt geht es um ein Dokument, das Verheiratete aufsetzen. Ein Get, ein Scheidebrief, der bestimmt, wie lange der Mann weg sein wird. Kommt er innerhalb dieses Zeitraums nicht zurück, bedeutet das die Scheidung. »Und was ist, wenn die Frau verreist? Setzt sie dann auch einen Get auf?«, fragt eine Teilnehmerin. Raunen. Leyni räumt ein, dass das zwar fair wäre, aber leider zur Zeit, in der der Talmud entstand, nicht zur Debatte stand. Die Gruppe diskutiert, ob der Get zugunsten der Frau ist.

Solche und ähnliche Diskussionen sind sehr willkommen bei SVARA, der Jeschiwa, die das Camp ausrichtet. Die gemeinnützige Organisation wurde 2003 in Chicago von Rabbinerin Benay Lappe gegründet und verbindet das Studium des Talmuds mit queeren Lesarten. Lappe vertritt die Theorie des »Crashs«, des Zusammenbruchs. Sie meint, jeder würde an einem Punkt seines Lebens mit der großen »Master Story« kollidieren, weil sie nicht mehr mit ihrer oder seiner Lebenswirklichkeit zusammenpasse. Genau wie die Juden nach der Zerstörung des Zweiten Tempels feststellen mussten, dass Teile der Tora diskutierbar sind, wurden auch viele nachfolgende Generationen immer wieder mit der Frage konfrontiert: Stimmt das, was da in der Schrift steht, und wie kann ich das auf mein Leben anwenden?

Der Talmud, eine Sammlung von Essays und Erörterungen über die Tora mit Kommentaren von Raschi und seiner Familie, stellt genau diese Diskussion dar. Auch queere Menschen kollidieren mit ihrer Tradition. Zum Beispiel mit der Zweiteilung in Männliches und Weibliches und mit den Gender-Codes der Synagoge. Lappe meint, das würde sie dem Talmud näherbringen, der versucht, Gegebenes zu interpretieren und einen neuen Weg zu finden, seinen Alltag und seine Religionspraxis zu leben.

Tattoos Viele der Camp-Teilnehmer teilen diese Einstellung und finden ihren eigenen Umgang mit der Tradition. »Ich liebe meine Religion, aber mich stört, dass die Frauen bei uns nicht sichtbar sind. Sie tragen keine speziell erkennbare Kleidung«, sagt eine junge Teilnehmerin. Wie viele andere Frauen im Camp trägt sie eine Kippa. Ihr Haar ist sehr kurz, links und rechts hinter den Ohren baumeln zwei Schläfenlocken. Sie hat sich die vormals männlich konnotierten Symbole angeeignet und trägt sie mit Stolz. Arme und Beine sind mit Tattoos in Hebräisch verziert, ein paar feministische Symbole sind auch dabei. Eine andere Teilnehmerin empfindet die gängigen Interpretationen der Tora oft als zu normativ und einengend. »Ich arbeite gerade an einem eigenen Jahrbuch, das jeden Tag eine Reflexion des Wochenabschnitts beinhaltet«, gibt sie preis. »An vielen Stellen finde ich, dass eine feministische und gendersensible Lesart möglich ist.«

Auf dem queeren Talmud-Camp wird neben den täglichen Talmud-Lerneinheiten, den Bet Midraschs, täglich gemeinsam gebetet, und am Nachmittag werden Workshops angeboten. Rabbi Ari Lev Fornari, der selbst ein Transmann ist, legt die Tora neu aus und referiert über Transgender-Theologie. Es entsteht außerdem eine Klezmerband, täglich trifft sich eine Yogagruppe, und ein Teilnehmer, der Psychotherapeut ist, coacht zum Thema queere Beziehungen.

An einem Abend sitzen alle Teilnehmer versammelt in der Kaminecke. Es ist eine Runde, in der die Jüngeren den Coming-out-Geschichten der Älteren lauschen. Eine Frau erinnert sich an die queeren Buchläden der 70er, die Treffpunkte der Szene in den USA. Die Geschichte von Benay Lappe ist besonders persönlich. »Als ich 17 war, habe ich verstanden, dass ich lesbisch bin. Ich habe das am Anfang nicht wahrhaben wollen und an der Tradition meiner Eltern festgehalten, bis ich schließlich ganz ausgebrochen bin.« Erst Jahre später hat sie wieder zurückfinden können in die jüdische Gemeinde. Sie lernte sechs Jahre lang an einer Rabbinerschule. In den 90er-Jahren musste sie damals ihre Sexualität geheim halten. Homosexuelle durften nicht ordiniert werden. Auf die Frage, weshalb sie die Ausbildung überhaupt gemacht hat, antwortet sie: »Für euch.« Ihr Blick streift jeden Einzelnen in der Runde.

Gefühl Am letzten Tag rezitieren alle Teilnehmer die Stellen des Talmuds, die sie gelernt haben. Egal wie flüssig die Aussprache und die Anzahl der auswendig gelernten Worte, nach jedem Beitrag wird laut applaudiert und gejubelt. Einige weinen vor Stolz, und jedesmal sagt Rabbinerin Lappe: »Erinnere dich an dieses Gefühl! Es gehört dir.« Damit meint sie auch, dass die Erkenntnis über den Inhalt des Talmuds ein Gefühl ist, das die Teilnehmer mit nach Hause nehmen. Die abschließende Reflexionsrunde des Camps ist so emotional, weil einige jahrelang den Bezug zu ihrer Religion verloren hatten, als sie entdeckt haben, dass sie queer sind. Das gemeinsame Lernen hat ihnen gutgetan. Ein Teilnehmer setzt die Gruppe in Kenntnis, dass er im Camp aufgehört hat, Antidepressiva zu nehmen. Eine ältere Frau leitet ihre Worte ein mit: »Ich muss mich hier mal als heterosexuell outen.« Sie meint, es habe ihr unglaublich viel gegeben, in dieser offenen und akzeptierenden Gruppe zu lernen, und dass es ihr leidtue, welche negativen Erfahrungen queere Menschen in religiösen Gemeinschaften erleben.

SVARA und das Queer Talmud Camp sind keine Selbsthilfeorte. Es sind Möglichkeiten, das Queer-Sein zu feiern und eine eigene Religionspraxis zu etablieren – und dafür, dass auch die breitere Gemeinschaft immer wieder offen für eine Kollision mit der »Master Story« sein kann.

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