Den »Actor’s Temple« in Manhattan findet man leicht, wenn man die 47. Straße vom Times Square aus immer weiter nach Westen geht. Sobald man die 8. Avenue überquert hat, wird es schnell sehr still, eine Wohngegend; dann kommt ein Schulhof, und schon steht man direkt davor: ein hübsches helles Haus, eine kleine Synagoge, eine richtige »Sehenswürdigkeit«, wie eine Bronzeplakette an der Außenmauer verrät.
Offiziell heißt die Gemeinde, die sich hier versammelt, »Ezrat Israel«. Es ist ein ganz normaler Schabbat, vormittags um halb elf Uhr. Die schweren Türen der Synagoge lassen sich nur schwer öffnen. Ein paar Stufen hinaufgestiegen, findet man sich in einem großen Gebetsraum mit schönen bunten Glasfenstern wieder. »Herzlich willkommen«, begrüßt Rabbinerin Jill Hausman die Ankommenden. »Gut Schabbes, bitte setzt euch.« Acht Menschen haben sich vorne, gleich unterhalb des Aron Hakodesch, in einem Kreis versammelt, alle jenseits der 40.
Tünche Die Rabbinerin erzählt, das sei jetzt der erste Schabbat in den renovierten Räumen. Tatsächlich: Die dunklen Holzböden glänzen, die Decke und die Wände sind frisch getüncht. Später tröpfeln noch ein paar Gemeindemitglieder herein. Offiziell zählt Ezrat Israel ungefähr 150 Seelen. Der Jahresbeitrag für die Mitgliedschaft in dieser Gemeinde ist für die Verhältnisse von Manhattan lachhaft niedrig: 75 Dollar.
Ganz früher einmal war Ezrat Israel eine orthodoxe Gemeinde. Seit 1917 trafen sich Juden aus dem Stadtteil Hell’s Kitchen zum gemeinsamen Gebet und zur Toralesung. Das Viertel trug seinen Namen nicht ganz zu Unrecht – Hell’s Kitchen war keine gute Gegend. Die meisten Gemeindemitglieder gingen einer guten alten jüdischen Beschäftigung nach: Sie waren in der Kleider- und Stoffbranche tätig.
In den 1920-Jahren hatte der damalige Gemeinderabbiner Bernard Birstein dann eine Idee. Er kam darauf, aktiv darum zu werben, dass sich Schauspieler der Synagoge anschlossen. Dazu muss man wissen, dass der Broadway damals noch eine sehr jüdische Angelegenheit war. Die Theater rund um den Times Square pflegten noch die schöne Tradition des Vaudeville, in der Sänger, Akrobaten, Jongleure, Feuerschlucker einander in lockerer Folge ablösten.
Zwischendurch wurde dann auch ein Einakter oder eine Szene aus einem bekannten Stück gegeben. Die Künstler, die all dies darboten, sprachen nicht mehr das Jiddische ihrer Eltern. Auch hatten sie ihre Namen anglisiert, um den Antisemitismus der nichtjüdischen Amerikaner zu unterlaufen. Trotzdem machten die Vaudeville-Theater am Broadway ziemlich genau dort weiter, wo die Bühnen in Polen und Russland aufgehört hatten.
Humor Vielleicht der berühmteste Star jener Zeit war Al Jolson, der eigentlich Asa Yoelson hieß (1886–1950). Es ist wohl nicht übertrieben, wenn es in einem Lexikon über die amerikanische Unterhaltungskultur heißt, Al Jolson sei für Jazz, Blues und Ragtime das gewesen, was Elvis Presley für den Rock ’n’ Roll war. Jeder kannte ihn, er verkörperte auf der Bühne unverwüstlichen Humor und gute Laune.
Häufig trat er mit schwarz gefärbtem Gesicht auf – eine Tradition, die eigentlich aus den rassistischen Minstrel Shows stammte. Al Jolson aber machte sich nicht über Schwarze lustig; vielmehr ebnete er den Weg für schwarze Kollegen wie Louis Armstrong und Ethel Waters. Bob Dylan ist mit seinen Auftritten aufgewachsen und sagte nachher, er habe Al Jolson im Blut. Und im Actor’s Temple entdeckten kürzlich Beter einen Siddur, der seinen schwungvollen Namenszug trug: Al Jolson schneite hier oft am Schabbat herein.
Ein weiterer Star unter den Gemeindemitgliedern: Sophie Tucker, die in der Ukraine als Sonya Kalisch geboren worden war (1886–1966). Auch sie trat ursprünglich mit schwarz gefärbtem Gesicht auf, und auch bei ihr war es keine rassistische Häme – vielmehr ließ sie sich von schwarzen Kolleginnen Gesangsunterricht geben. Die vollschlanke Tucker wurde als Vaudeville-Künstlerin reich und berühmt. Auf YouTube kann man ihre wunderbare Interpretation von »A Yiddishe Mamme« hören.
Hoher Feiertag Sophie Tucker ist es zu verdanken, dass der Actor’s Temple eines Hohen Feiertages aufhörte, orthodox zu sein und zu einer konservativen Synagoge wurde – jedenfalls, wenn man Rabbi Hausman glauben darf.
Angeblich soll die Geschichte sich so zugetragen haben: Tucker sah von der Frauenempore, wie eine reiche Dame am Arm ihres Mannes die für Männer reservierte Abteilung betrat, was naturgemäß zu großer Aufregung führte. Tucker verließ daraufhin ihren Platz, ging die Treppe hinunter und gesellte sich ostentativ zu dem Paar. Der Rabbi traute sich nichts mehr zu sagen. Nur ein Narr hätte sich der großen Tucker in den Weg gestellt.
All das ist lange her. Passé die Zeiten, als im Actor’s Temple Edward G. Robinson betete (1893–1973), der in Bukarest als Emanuel Goldenberg geboren wurde, in Hollywoodfilmen den Bösewicht mimte, privat aber ein grundgütiger Mensch gewesen sein soll. Passé auch der unvergessliche Moment, als Sandy Koufax (Jahrgang 1935), vielleicht der größte Baseballspieler überhaupt, an einem Jom Kippur plötzlich zur Tür hereinkam und sich auf eine der Synagogenbänke setzte, als sei das gar nichts.
Mike Libien, der mittlerweile 77 Jahre alt ist, kann sich noch gut daran erinnern. Sein Großvater hat diese Gemeinde einst mitbegründet. Und obwohl Mike in New Jersey wohnt, kommt er am Schabbat immer noch über den Hudson, um hier zu beten.
Geld Heute versammeln sich im Actor’s Temple ein paar Leute, um mit Rabbi Hausman einen Reformgottesdienst zu feiern. Nicht einmal die Torarollen werden dabei aus dem Schrein geholt. Stattdessen balanciert jeder, der im Kreis sitzt, einen Tanach auf den Knien. Die Gemeinde hält sich finanziell gerade so über Wasser.
Unter der Woche wird die Synagoge als Theater vermietet, deswegen erhebt sich vor dem Aron Hakodesch eine kleine Bühne. Ob das eine Zukunft hat, weiß keiner. Aber nicht nur die Holzböden sind gerade renoviert worden, auch die Decken und Wände strahlen in frischem Weiß. Rabbi Jill Hausman ist überzeugt, dass sie hier Gottes Werk tut.