So klein und verschlafen die beiden früher oft als »Judendörfer« bezeichneten Orte Endingen und Lengnau im Kanton Aargau heute auch wirken mögen, so wichtig ist ihre Rolle in der Geschichte der Schweizer jüdischen Gemeinde. Nicht zuletzt deshalb werden sie, zumindest in Nicht-Corona-Zeiten, auch gerne und häufig von jüdischen wie nichtjüdischen Gästen besucht.
Selbstverständlich also, dass ein 500 Seiten dickes Nachschlagewerk, das insgesamt 40 Autorinnen und Autoren vereint, mit dem anspruchsvollen Titel Jüdischer Kulturraum Aargau nicht an den beiden im idyllischen Surbtal gelegenen Dörfern vorbeikommt.
Schließlich durften jüdische Familien bis 1866 in der Schweiz nur in diesen beiden Dörfern wohnen. Als das Verbot dann aufgrund ausländischen Drucks auf die Schweizer Regierung fiel, strömten die bisher auf engem Raum eingesperrten Menschen hinaus, »von Lengnau bis Baden und Zürich, von Endingen bis Bremgarten und Bern, vom Surbtal bis nach Aarau, Tel Aviv oder New York«. So schreiben die beiden Herausgeber des Buches, die Basler Historiker Angela Bhend und Jacques Picard, in ihrem Vorwort.
AUSWANDERER Sie begründen damit auch ihre Titelwahl: Der jüdische Kulturraum Aargau, schreiben sie, sei migratorisch quasi in die ganze Welt hinausgetragen worden − von namenlosen Auswanderern, die heute niemand mehr kennt, ebenso wie von prominenten, zum Beispiel der berühmten Familie Guggenheim oder dem Regisseur William Wyler, der unter anderem den Monumental- und Historienfilm Ben Hur (1959) mit Kirk Douglas in der Titelrolle drehte und selbst im fernen Hollywood noch stolz auf seine Surbtaler Wurzeln war.
Das Verdienst des Werkes ist aber auch, dass es diesen Kulturraum viel weiter fasst als nur mit dem Blick auf Endingen und Lengnau. Selbst wer in der Schweizer jüdischen Geschichte bewandert ist, erfährt hier viel Neues und Unbekanntes. Etwa über ostjüdisches Leben in Baden bei Zürich. Die Stadt war attraktiv für jüdische Einwanderer, obwohl die Einbürgerungspraxis der Behörden nicht liberaler war als in der nahen Großstadt.
Spannend ist auch ein Artikel über den Kur- und Badeort Zurzach. Das Dorf, vom nahen Deutschland nur durch den Rhein getrennt, war für jüdische Händler ein äußerst wichtiges Pflaster. Denn Zurzach führte seit dem Mittelalter jeweils zweimal im Jahr eine große Messe durch, die auch viele jüdische Händler von nah und fern in den Ort brachte.
GRENZLAGE Die Grenzlage und niedrige Zölle machten den Ort attraktiv, Autorin Susanne Bennewitz nennt Zurzach gar eine »vormoderne Freihandelszone«. Sie erzählt die Legende des Frankfurter Kaufmanns Aron Schotten, der im 19. Jahrhundert eine Reise zur Messe nur knapp überlebte – dank eines Glücksbringers, den er von Rabbiner Seckel Löb Wormser, dem »Baal Schem von Michelstadt«, erhalten haben soll. Der Legende nach habe ihn dieser Glücksbringer vor dem Überfall einer schlimmen Räuberbande gerettet, die anscheinend darauf spezialisiert war, Händler, die mit Waren, aber auch Geld angereist waren, auszurauben und zu ermorden.
Die Legende sorgte dann dafür, dass Zurzach und seine Messen in jüdischen Kreisen Deutschlands lange Zeit einen ausgesprochen schlechten Ruf hatten, was wenig verwundert. Und als spezielle historische Fußnote, die in dem Buch ebenfalls zu finden ist, wirkt noch die Tatsache, dass Zurzach in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine kleine Hochburg der Schweizer Nazis war. Diese hatten im Aargau ohnehin stärkeren Zulauf als in anderen Kantonen.
Der Sammelband setzt der Entwicklung jüdischen Lebens in dieser Region ein überaus lesenswertes literarisches Denkmal.
Angela Bhend und Jacques Picard (Hrsg.): »Jüdischer Kulturraum Aargau«. Hier und Jetzt, Zürich 2020, 528 S., 59 €
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