Die jüdische Gemeinschaft in Europa ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch geschrumpft, und noch nie in den vergangenen 1000 Jahren war der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung so niedrig wie heute. Zu diesem Schluss kommt eine umfassende demographische Studie der Wissenschaftler Sergio DellaPergola und Daniel Staetsky im Auftrag des Londoner »Institute for Jewish Policy Research«.
ANTEIL Während im Jahr 1900 noch mehr als 80 Prozent aller Juden auf dem europäischen Kontinent beheimatet waren, sind es heute nur noch neun Prozent. Insgesamt 1,3 Millionen Menschen, so DellaPergola und Staetsky in ihrem Bericht, fühlen sich aktuell in Europa dem Judentum zugehörig. 2,8 Millionen Europäer hätten nach dem israelischen Rückkehrgesetz einen Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft, weil sie mindestens ein jüdisches Großelternteil haben oder mit einer solchen Person verheiratet sind.
»Der Anteil der in Europa ansässigen Juden ist etwa gleich hoch wie zur Zeit der ersten jüdischen Weltbevölkerungsrechnung, die Benjamin von Tudela, ein jüdischer Reisender des Mittelalters, im Jahr 1170 erstellte«, schlussfolgern die Autoren.
Allein in den vergangenen fünfzig Jahren habe Europa 60 Prozent seiner Juden verloren, die meisten durch Abwanderung und durch fehlenden Nachwuchs. 1970 lebten noch rund 3,2 Millionen Juden in den europäischen Staaten. Vor allem Osteuropa war vom Rückgang stark betroffen: Die jüdische Bevölkerung in Russland, schätzen DellaPergola und Staetsky, sei heute mit 155.000 nur noch gut ein Drittel so groß wie vor 30 Jahren.
DEUTSCHLAND Auch die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sehen die Autoren vor großen Herausforderungen: Mehr als zwei Fünftel der rund 118.000 Juden hierzulande sei älter als 65 Jahre und nur ein Zehntel unter 15. Das werde zwangsläufig zu einem Rückgang der Bevölkerung führen. Bis vor einiger Zeit galt Deutschland noch als die einzige jüdische Gemeinde Europas, die im Wachsen begriffen war – auch dank der Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
Der Bericht der Forscher stützt sich »bisher noch nie untersuchte Datenquellen auf kommunaler, nationaler und gesamteuropäischer Ebene«. Er zeigt auch auf, dass sich die Juden der Europäischen Union stärker verbunden fühlen als die allgemeine Bevölkerung der Mitgliedstaaten. Dies gilt insbesondere für mittel- und osteuropäische Länder wie Polen und Ungarn.
In der Studie werden auch Unterschiede deutlich, was europäische Juden als jüdisch ansehen. Während in Großbritannien 61 Prozent der von den Demographen befragten Juden das Judentum in erster Linie als Religion betrachten, wird diese Vorstellung nur von 11 Prozent der Juden in Polen, für die es eine ethnische Zugehörigkeit bedeutet, und von neun Prozent ungarischen Juden, die es als Kultur betrachten, geteilt. mth