Mehr als 106.000 Menschen hat die Covid-19-Pandemie in Großbritannien bereits das Leben gekostet, knapp vier Millionen waren in den letzten zwölf Monaten bereits mit dem Coronavirus infiziert. Die 7-Tage-Inzidenz, die durchschnittliche Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, liegt aktuell bei 245 - mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland.
FAKTOR NEUN Noch viel schlimmer hat das Virus aber in einigen jüdischen Gemeinden in Großbritannien gewütet. Das hat jetzt die Auswertung einer Studie der London School of Hygiene & Tropical Medicine (LSHTM) unter mehr als 1200 Angehörigen einer ultraorthodoxen Gemeinschaft in London ergeben. Erste Ergebnisse wurden Anfang dieser Woche veröffentlicht.
Demnach wurde bei einer namentlich nicht genannten charedischen Gemeinde mit rund 15.000 Mitgliedern festgestellt, dass knapp zwei Drittel (64 Prozent) der untersuchten Personen bereits Antikörper gegen SARS-CoV-2 entwickelt hatten, sich also in den Monaten zuvor mit dem Coronavirus infiziert hatten. Dieser Wert liegt um das Neunfache über dem landesweiten Durchschnitt (7 Prozent) und um fast das Sechsfache über dem der Hauptstadt London (11 Prozent).
Die Studie, deren Peer-Review noch aussteht, wurde in Zusammenarbeit mit dem Great Ormond Street Institute of Child Health des University College London sowie dem Medical Advocacy and Referral Service (MARS) durchgeführt - einer Organisation, die sich für die gesundheitlichen Bedürfnisse der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinden einsetzt.
»LEBEN RETTEN« Das Forscherteam bat im November und Dezember 2020 mehr als 1750 Personen, eine Umfrage zu demografischen und medizinischen Informationen auszufüllen und eine Blutprobe abzugeben. Diese wurde dann auf SARS-CoV-2-Antikörper getestet. 1242 Personen gaben eine Blutprobe ab.
Rabbiner Hershel Grunfeld, der Direktor und Gründe von MARS, wollte die Studie durchführen, »um ein besseres Verständnis der Wirkung von Covid-19 in streng-orthodoxen Gegenden Menschen zu bekommen, Leben zu retten und die Vorsorge in den Gemeinden zu verbessern«.
Die niedrigste Infektionsrate (28 Prozent) wurde bei Kindern unter fünf Jahren, die höchste dagegen sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen (75 Prozent) festgestellt. Insgesamt waren Männer etwas häufiger mit dem Coronavirus infiziert als Frauen.
ERKLÄRUNG Die Gründe für die extrem hohe Infektionsrate unter ultraorthodoxen Juden, so die Forscher in einer Pressemitteilung, seien nicht ganz klar. Streng-orthodoxe Familien lebten aber häufig in deutlich größeren Haushalte als der britische Durchschnitt. Häufig leben religiöse Juden auch in Gebieten mit erhöhter Bevölkerungsdichte und nähmen in Zeiten vor der Pandemie öfter an Versammlungen teil als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Michael Marks von der London School of Hygiene & Tropical Medicine, der die Studie ebenfalls leitete, erklärte, die Ergebnisse hätten »die extrem hohen Infektionsraten in dieser sehr vernetzten Bevölkerungsgruppe offenbart«.
Auch andere ethnische und religiöse Minderheiten sind in Großbritannien überproportional stark von Covid-19 betroffen. Es wird angenommen, dass eine Reihe von Faktoren wie Deprivation, geringere Möglichkeiten, von zu Hause aus zu arbeiten, eine größere Anzahl an Personen pro Haushalt und höhere Raten von Komorbiditäten zu diesem erhöhten Risiko beitragen.
VERMEIDBAR Jüngst wurde festgestellt, dass bei jüdischen Männern im Alter von über 65 eine doppelt so hohe Sterberate vorliegt wie bei Christen - selbst nach Berücksichtigung von sozialen und demografischen Faktoren.
Marks sagte, die Infektionsraten, die man beobachtet habe, gehörten »zu den höchsten, die bisher auf der ganzen Welt gemeldet wurden. Da unsere Erhebung Anfang Dezember 2020 abgeschlossen wurde, also vor dem anschließenden Anstieg der Fälle, ist es wahrscheinlich, dass die Gesamtbelastung durch die Infektion in dieser Gemeinde jetzt noch höher ist.«
Rosalind Eggo von der LSHTM erklärte, religiöse und ethnische Minderheiten seien »in allen Phasen der Pandemie einem erhöhten Risiko ausgesetzt« gewesen. Das habe zu »vermeidbaren Ungleichheiten« in der Gesundheitsvorsorge geführt. mth