Ukraine

Stimmen aus Kiew

Angesichts der russischen Bedrohung bleibt die jüdische Gemeinde besorgt

von Vyacheslav Likhachev  17.02.2022 08:05 Uhr

Der Unabhängigkeitsplatz in Kiew am vergangenen Sonntag Foto: imago images/ZUMA Wire

Angesichts der russischen Bedrohung bleibt die jüdische Gemeinde besorgt

von Vyacheslav Likhachev  17.02.2022 08:05 Uhr

Die Ukraine durchlebt unruhige Zeiten, jeden Tag ändert sich die Lage. Auch wenn am Dienstagmorgen mit dem Abzug russischer Truppen an der Grenze im Süden und Westen des Landes begonnen wurde, bleiben die Menschen in der Ukraine höchst angespannt.

Westliche Politiker und Medien hatten unter Berufung auf Geheimdienstinformationen argumentiert, Russland könne diese Woche eine groß angelegte Invasion der Ukraine beginnen. Botschaften wurden verlegt oder froren ihre Arbeit ein, mehrere Länder riefen ihre Bürger zur Rückkehr auf, darunter Israel.

jerusalem Die Regierung in Jerusalem ist besorgt um die jüdische Gemeinde der Ukraine und bereitet deren Rettung vor. Laut Schätzungen leben zwischen 56.000 und 140.000 Juden im Land, rund 200.000 ukrainische Staatsbürger könnten von dem israelischen Recht auf Rückkehr Gebrauch machen und nach Israel einwandern.

»Vielleicht will Israel als Ersten gleich Selenskyj aufnehmen?«, scherzt ein älterer Mann in einer Kiewer Synagoge. Da Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj jüdisch ist, fiele auch er unter das israelische Rückkehrgesetz. Der ältere Mann ist skeptisch gegenüber Selenskyj. Er vermutet, dass der ukrainische Präsident Angst vor Wladimir Putin hat und sich dem Druck des Kremls beugen könnte.

»Die israelische Regierung hat sich nicht mit uns beraten.«

Gemeindechef Josef Zissels

Auch Josef Zissels (75), Präsident des Verbandes der jüdischen Gemeinden und Organisationen der Ukraine, neigt zu Ironie über die Evakuierungsinitiative: »Die israelische Regierung hat sich nicht mit uns, der örtlichen Gemeinde, beraten«, sagt er.

evakuierung Die Diskussion über die Rettung der ukrainischen Juden, ohne die Meinung der Betroffenen zu berücksichtigen, bringt Zissels zum Schmunzeln. »Stellen Sie sich vor, die amerikanische Regierung würde über die Evakuierung Israels diskutieren und US-Bürger auffordern, Israel zu verlassen, etwa wegen Fortschritten im iranischen Atomprogramm. Wie würden sich da die Israelis fühlen?«

Wenn ihn Israel um Rat fragen würde, was die Ukraine heute wirklich brauche, würde er antworten: Waffen, Medikamente, militärische und medizinische Technologie, Ausbilder. »Israel hat enorme Erfahrung und Ressourcen in genau den Bereichen, in denen die Ukraine Hilfe braucht.« Doch Israel verweigere nicht nur Gespräche über eine militärisch-technische Zusammenarbeit, sondern blockiere auch die Lieferung von Waffen, die zuvor an Drittländer verkauft wurden.

Natürlich, sagt Josef Zissels, könne man Israels Position nachvollziehen. »Jerusalem hat Angst davor, dass sich die Beziehungen zu Russland verschlechtern.« Doch die Welt polarisiere sich gerade wieder. Da müsse sich Israel entscheiden, sagt Zissels – entweder für den »kollektiven Westen«, den die USA wieder festigen konnten, oder für Russland und seine Verbündeten, von Iran bis Venezuela.

»Auch moralische Unterstützung aus Israel wäre uns heute wichtig«, sagt der Chef der ukrainisch-jüdischen Gemeinde. So wie Zissels wollen auch die Rabbiner im Land ihre Gemeinden nicht verlassen. Dies erklärten sie vor einigen Tagen einstimmig bei einem Treffen, das die israelische Botschaft organisiert hatte.

Erste-Hilfe-Kurse Anna (41), Jugendpsychologin und Gemeindemitglied in Kiew, sagt, dass die Anfragen nach Hilfe bei Angstzuständen erheblich zugenommen haben. »Ich versuche, so weiterzuleben und zu arbeiten wie bisher, Teenagern und Familien zu helfen«, sagt sie.

Sie habe sich für einen Erste-Hilfe-Kurs angemeldet, fügt sie hinzu. Solche Kurse und Trainingsstunden sind seit einigen Wochen in der Ukraine sehr gefragt, ebenso wie Kurse an Schießständen. »Wir werden unser Land, unsere Freiheit, unsere Menschenwürde verteidigen«, sagt Anna. »Wir kämpfen für die Werte der freien Welt und zählen auf deren Unterstützung.«

»Die Anfragen nach Hilfe bei Angstzuständen haben erheblich
zugenommen.«

Anna (41), Jugendpsychologin

Hilfe für ihr Land ist das, was ukrainische Juden von Israel und auch von Deutschland jetzt erwarten. Eine Initiativgruppe ukrainischer Juden verfasste vor einigen Tagen einen Appell an Bundeskanzler Olaf Scholz. Mehrere Hundert Gemeindemitglieder unterzeichneten den Brief.

aggression Darin heißt es: »Angesichts einer möglichen Eskalation der bewaffneten Aggression Russlands gegen unser Land, die Ukraine, fordern wir Sie heute (…) auf, entschlossenere Maßnahmen zu ergreifen, um die russische Aggression abzuschrecken und zur Stabilisierung der Situation unmittelbar danach beizutragen.«

Jeder Widerstand gegen Waffenlieferungen an die Ukraine über das Beschaffungssystem der NATO müsse als Zugeständnis an den Kreml ausgelegt werden – »eine Entscheidung, die logisch nicht zu rechtfertigen und moralisch inakzeptabel ist«. Deutschland trage aus historischen Gründen als auch aufgrund seiner Lage »eine besondere Verantwortung für die europäische Sicherheit sowie für eine friedliche und stabile Entwicklung Europas«.

Die Unterzeichner hoffen, »dass die Bundesrepublik Deutschland aus den schwierigen Lehren der europäischen Geschichte die richtigen Schlüsse ziehen und der Ukraine in dieser schwierigsten Zeit die notwendige Unterstützung zukommen lassen wird«.

HITLER Yigal (35), ein israelischer Offizier, der seit fünf Jahren in der Ukraine lebt, hat diesen Appell zwar nicht unterschrieben, aber seine Botschaft an die deutsche Regierung klingt ähnlich: »Das Verhalten der Deutschen ist zwar logisch und verständlich, ich werde sie aber daran erinnern, dass das Verhalten all derer, die Hitler in den 30er-Jahren besänftigen wollten, auch logisch und verständlich war. Es ist klar, wie alles endete«, sagt er.

Eine russische Aggression werde seiner Meinung nach zu einer »großen Katastrophe und Tragödie« nicht nur für die Ukraine, sondern auch für »Deutschland als Staat und die Deutschen als Volk«. Und er fügt hinzu, dass er denjenigen europäischen Ländern zutiefst dankbar ist, die reagiert und der Ukraine mit Waffen geholfen haben.

Wie der Rest der ukrainischen Gesellschaft hofft die örtliche jüdische Gemeinde auf das Beste – bereitet sich aber auch auf das Schlimmste vor. Und appelliert an die zivilisierte Welt, nicht gleichgültig zuzusehen.

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