Der Sündenfall war in Wirklichkeit ein Glücksfall. Als Eva Adam den Apfel anbot, machte sie den ersten Schritt hin zu einem selbstbestimmten Leben. »Eine Frau, stellvertretend für die gesamte Menschheit. Gott kann stolz sein auf Eva«, sagt Swetlana Jakimenko.
Die kleine Frau mit dem rotblonden Haarschopf koordiniert die Arbeit der jüdischen Frauenorganisation »Project Kesher« auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Die moderne Interpretation des biblischen Textes hat Jakimenko zitiert, weil sie veranschaulicht, wofür Project Kesher kämpft. »Wir propagieren das Bild einer selbstbewussten Frau. Wir wollen erreichen, dass die Frauen tatsächlich gleichgestellt sind mit den Männern«, so Jakimenko.
Perestroika »Kesher« kommt aus dem Hebräischen und bedeutet »Verbindung«. Entstanden ist die Organisation 1989 in den USA. In der Perestroika-Zeit wurden die ersten Kontakte zu Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion möglich. 1994 eröffnete das russische Büro. Es folgten Zweigstellen in Weißrussland, der Ukraine, Moldawien, Georgien und Kasachstan. Im Sinne der Graswurzel-Bewegung wächst das Netzwerk durch Mundpropaganda. Bereits aktive Frauen erzählen ihren Freundinnen von der Organisation. Nach und nach kommen neue Aktivistinnen hinzu. In der ehemaligen Sowjetunion sind es heute rund 3.500.
Als jüdische Frauenorganisation beginnt Project Kesher den Einsatz für die Gleichberechtigung in den Synagogengemeinden. In derzeit 170 Städten machen Jakimenko und ihre Mitstreiterinnen andere Frauen mit den jüdischen Traditionen vertraut. Durch die restriktive sowjetische Religions- und Kulturpolitik ist vieles in Vergessenheit geraten. Tora, Talmud und andere jüdische Texte werden gelesen und diskutiert. »Indem wir den Frauen Kultur und Glauben nahebringen, stärken wir ihre jüdische Identität«, sagt Jakimenko.
Klar, dass nicht jeder Rabbiner die Konkurrenz um die Deutungshoheit der alten Texte begrüßt. »Wir gehen bewusst sehr behutsam vor«, sagt Jakimenko. Einem skeptischen Rabbiner wird erklärt, dass die Frauen lediglich alternative Textinterpretationen kennenlernen. Niemand werde gezwungen, der lokalen Tradition abzuschwören. Jakimenko nennt ein Beispiel: »In manchen Synagogen trennt noch heute ein Vorhang die Frauen von den Männern.« Die Aktivistinnen erklären, dass die Trennung der Geschlechter während des Gottesdienstes nirgendwo festgeschrieben sei und dass es Synagogen ohne Vorhang gebe. »Wir sagen nicht: Der Vorhang muss weg. Wir zeigen den Frauen aber alternative Möglichkeiten auf. Denn nur wer Alternativen kennt, kann wählen und sein Leben selbst gestalten«, betont Jakimenko.
Ist das Fundament gelegt, kann der zweite Schritt folgen. Die Aktivistinnen diskutieren mit den Frauen, welche Bedeutung die jüdische Tradition für das Leben der Einzelnen in der modernen Welt haben kann – etwa für die Körperhygiene, für die Gesundheit der Familie oder für die Beziehung zum Partner. Es geht um die Identität der Frau als Teil der Gesellschaft.
»Eines unserer Programme klärt über Gebärmutterhalskrebs auf«, erzählt Jakimenko. »Beim ersten Hinschauen ist das ein reines Frauenthema. Aber auf den zweiten Blick wird klar, dass auch der Ehemann und die Kinder betroffen sind, wenn die Frau und Mutter erkrankt.« Und falls in einem Land nicht genug Impfstoff zur Verfügung steht, dann sei das sogar ein gesellschaftliches Problem.
Feminismus Die Arbeit in den Gemeinden zeigt bereits Wirkung. Jakimenko freut, dass zu den Treffen immer mehr junge Frauen kommen. Viele bringen ihre Partner mit. Gemeinsam diskutierten die jungen Paare Fragen, die sie bewegen. Das ist neu. Und noch etwas anderes ist neu: Die jungen Frauen bezeichnen sich freimütig als Feministinnen. Ganz schön selbstbewusst sei das, findet Jakimenko. Denn in Russland ist »Feministka« noch immer ein Schimpfwort und der Feminismus vor allem eine Bedrohung für das »gesunde Zusammenleben« der Geschlechter.
Mit dem dritten Schritt schließlich überschreiten die Aktivistinnen von Project Kesher die Gemeindegrenzen und stellen die Frage nach der Rolle der Frau als Bürgerin. Eine ganze Reihe von Programmen richtet sich an die gesamte Öffentlichkeit. Themen sind aktuelle Probleme wie Antisemitismus, Nationalismus oder Extremismus.
Eines der Programme macht auf sexuelle Versklavung und Menschenhandel aufmerksam. »Das ist vor allem im Kaukasus ein großes Problem. Trotzdem spricht niemand darüber«, sagt Jakimenko. Gründe für das Schweigen sind Scham und auch Angst, denn bei dem gewinnträchtigen Handel mit Sexsklavinnen hat oft die Mafia die Finger im Spiel. Project Kesher warnt junge Frauen vor fadenscheinigen Job-Angeboten. Und bereits mehrmals konnte die Organisation die Polizei bei Befreiungsaktionen mit ihren Kontakten unterstützen.
Auf einen Erfolg der gesellschaftspolitischen Arbeit von Project Kesher ist Jakimenko besonders stolz: In den vergangenen Monaten haben die Aktivistinnen intensiv Lobbyarbeit für einen Gesetzentwurf gemacht, der die Gleichstellung der Frauen mit den Männern in Russland rechtlich festschreibt. Bei Diskussionsveranstaltungen in den Regionen stellten sie Politikern den Entwurf vor. In persönlichen Anschreiben forderten sie die Abgeordneten auf, im Parlament für die Annahme zu stimmen.
»Der Entwurf wird jetzt tatsächlich zur Lesung in die Duma eingebracht«, sagt Jakimenko. Dass ein ähnliches Papier vor acht Jahren heimlich und leise in der Schublade verschwand, tut ihrer Freude keinen Abbruch. »Es ist weniger entscheidend, ob der Entwurf schließlich als Gesetz verabschiedet wird«, findet die Aktivistin. Denn eigentlich sei die Gleichstellung der Geschlechter bereits in der russischen Verfassung verbrieft – wenn auch bisher ohne Auswirkung auf die gesellschaftliche Realität. »Wichtig ist, dass das Thema Aufmerksamkeit erhält und sich etwas in den Köpfen ändert.«
Am Sonntag, 30. Oktober, stellt Swetlana Jakimenko um 19 Uhr im Jüdischen Gemeindehaus Berlin, Fasanenstraße 79/80, ihr Projekt vor (in englischer Sprache, Eintritt frei).
www.projectkesher.org