Lange haben die Historiker auf den 2. März gewartet: auf den Tag, an dem der Vatikan endlich seine Archive aus der Zeit Papst Pius’ XII. (1939–1958) öffnet. Doch dann kam das Coronavirus nach Italien – und mit ihm Reisebeschränkungen, weshalb unter anderem das US Holocaust Memorial Museum (USHMM) derzeit keine Mitarbeiter nach Rom schicken kann. Sie sollen aber nachkommen.
»Das Apostolische Archiv war relativ leer«, erzählt Elisabeth-Marie Richter, als sie am Abend des Eröffnungstages der Pius-Archive den Vatikanstaat durch das Sankt-Anna-Tor verlässt.
Die Historikerin von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster war am Montagmorgen die Erste, die nach jahrelangem Warten das Apostolische Vatikanische Archiv betreten konnte. »Bis um 8.30 Uhr die Tür zum Arbeitssaal geöffnet wurde, gab es schon eine gewisse Nervosität«, sagt sie. Mit ihrem Kollegen Sascha Hinkel gehört Richter zu einem siebenköpfigen Team um den Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf, das nach Rom gekommen ist, um die Pius-Archive zu erforschen.
weihnachtsansprache Beide Historiker kennen Eugenio Pacelli, wie Pius XII. bürgerlich hieß, recht gut, haben zehn Jahre lang eine kritische Pacelli-Edition erstellt, die seine Zeit als Päpstlicher Botschafter in Deutschland (1917–1929) umfasst. »Das ist jetzt hilfreich, wenn man seine winzige Handschrift entziffern muss, die oft mehrfachen Korrekturen«, sagt Richter. Gleich am Montag macht sich ihr Kollege Hinkel an die Vorarbeiten zu der bekannten Radio-Weihnachtsansprache Pius’ XII. von 1942.
Darin beklagte der Papst, dass »Hunderttausende nur aufgrund ihrer Rasse verfolgt« würden. Dies wird als äußerst schwacher Hinweis auf die Judenverfolgung der Nazis gewertet. Wie entstand die Rede? Hatte Pius einen ersten Entwurf abgeschwächt? Dies sind einige der Detailfragen, mit denen Forscher die Hintergründe für das öffentliche Schweigen des Pacelli-Papstes angesichts der Schoa entschlüsseln wollen. Anders als zur handschriftlichen Vorbereitung der Weihnachtsansprache von 1944 – komplett mit Bleistift geschrieben – fand Hinkel zu jener von 1942 in der entsprechenden Schachtel zunächst nichts.
Das muss nichts heißen. Die rund 16 Millionen Seiten allein des Apostolischen Archivs, früher Vatikanisches Geheimarchiv genannt, stehen noch nicht komplett zur Verfügung. Für einige Bereiche fehlen noch Indizes, anhand derer die Forscher auf das Material zugreifen können. Es wird nach Einschätzung von Experten ohnehin zwei, drei Jahre dauern, bis sich aus der Fülle des Materials – auch im Abgleich mit anderen Archiven – valide Schlüsse ziehen lassen. Unabhängig davon, welche das sein werden, bewerten Forscher die lange erwartete Öffnung der Archive zu einem der umstrittensten Pontifikate als bedeutsam.
nachkriegszeit Pius’ Regierungszeit umfasste zwei Schlüsseljahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Der Geschichtsforschung erschließt sich seit Montag nicht nur zusätzliches Material zur katholischen Kirche in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Schoa. Deutlicher wird jetzt auch, welche Haltung der Vatikan nach dem Krieg einnahm. So interessiert viele Forscher das Thema der sogenannten »Rattenlinie«, also die Frage, wie die NS-Kriegsverbrecher Josef Mengele und Adolf Eichmann mit vatikanischen Pässen nach Argentinien entkommen konnten.
Die Kommunisten waren dem Papst mehr zuwider als die Faschisten.
Geboren wurde Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli am 2. März 1876 in eine alteingesessene römische Familie. Von 1914 bis 1917, während des Ersten Weltkriegs, war er vatikanischer »Außenminister« und erlebte als solcher das Scheitern der Friedensappelle des damaligen Papstes Benedikt XV. (1914–1922). Nach seiner Zeit als Nuntius zuerst in München, später in Berlin, als in Deutschland die Nazis und in Italien die Faschisten an die Macht kamen, war der hagere, asketisch wirkende Pacelli Kardinalstaatssekretär und damit zweiter Mann im Vatikan. Zum Papst gewählt wurde er an seinem 63. Geburtstag, am 2. März 1939. Sechs Monate später begann der Zweite Weltkrieg.
Kritiker Für seine Kritiker ist Pius XII. derjenige, der es wiederholt versäumte, sich gegen Hitler eindeutig auf die Seite der verfolgten Juden zu stellen. Seine Verteidiger halten dagegen, angesichts der damaligen Lage habe er sein Mögliches getan, um im Stillen die katholische Kirche zu schützen und all jene in ihren Reihen, die im Geheimen anderen geholfen haben – auch Juden.
Was also bewog Pius XII., der doch über die Informationskanäle der Weltkirche gut informiert war, zu schweigen? Machte ihn die Tatsache, dass er gegenüber Kommunisten eine größere Antipathie hatte als gegenüber Faschisten, auf dem rechten Auge blind? War es die Angst, dass Mussolinis Faschisten oder ab Herbst 1943 die deutschen Besatzer den damals erst 14 Jahre alten Vatikanstaat erobern und die Zentrale der katholischen Kirche vernichten könnten?
Die Erwartungen sind unterschiedlich. Man werde Belege finden, »die das stützen, was wir bereits über ihn wissen«, sagte vor einigen Tagen etwa Manuela Consonni, Professorin für Holocaust Studies an der Hebräischen Universität Jerusalem, in einem Interview. »Selbst, wenn Forscher herausfinden, dass er geheim mehr getan hat, als wir bisher wissen, ändert das nichts an der Lage«, so Consonni. »Als Papst hätte er seine Stimme öffentlich erheben müssen. Das war seine moralische Pflicht.«
Iael Nidam-Orvieto, Direktorin des Internationalen Instituts für Holocaustforschung in Yad Vashem, erwartet einiges von der Archivöffnung. Alle bisherige Forschung basiere auf begrenztem Aktenmaterial. Doch ist sie sich sicher: Pius XII. wird eine kontroverse Figur bleiben.
Ambiguität Mit der Ambiguität des Pacelli-Papstes leben auch die Juden Roms. Bis heute ist der 16. Oktober 1943 ein schwarzes Datum in der Geschichte ihrer Gemeinde. An diesem Tag führten die deutschen Besatzer im historischen Ghetto hinter der Großen Synagoge eine Razzia durch. Mehr als 1000 jüdische Bürger Roms wurden zusammengetrieben, einige Tage lang in einer Kaserne an der Piazza delle Rovere interniert und dann nach Auschwitz in den Tod geschickt. In den Monaten danach wurden weitere 1000 Gemeindemitglieder in die Vernichtungslager deportiert.
Viele hofften damals, dass sich der Papst als Sohn der Stadt öffentlich äußern würde. »Doch bekanntermaßen protestierte der Vatikan nie«, so Roms Oberrabbiner Riccardo Di Segni. »Zur gleichen Zeit öffneten Klöster und Konvente ihre Türen für Juden. Das Verhalten der Kirche war ambivalent.« Zudem seien die Probleme mit Pius nach 1945 weitergegangen: Man erinnere sich an seine Weigerung, jüdische Kinder, die zur Tarnung getauft worden waren, den jüdischen Gemeinden zurückzugeben, oder Pius’ mangelnde Unterstützung für den Staat Israel, so Di Segni gegenüber der »Jerusalem Post«.
Vor zwei Wochen breiteten Archivare des Vatikan bei einem Kongress vor rund 300 Historikern, Journalisten und Botschaftsmitarbeitern eine umfangreiche Themenpalette aus. Insgesamt 14 Jahre lang hatten sie Kisten, Akten, Umschläge entstaubt, gewälzt, geöffnet, sortiert, Stichwortregister angelegt und einen Teil der Dokumente digitalisiert. Das Ergebnis präsentierten sie nicht ohne Stolz. Spürbar das Anliegen, den viel kritisierten Pius in einem besseren, zumindest differenzierteren Licht darzustellen. Sein Bild genauer zu zeichnen, obliegt seit Montag den Historikern. Deren erste Aufgabe sei es, »zu verstehen« und erst in einem zweiten Schritt zu deuten und zu bewerten, ermahnte Paolo Vian, Vizepräfekt des Apostolischen Archivs.
Insgesamt hat der Vatikan am Montag sieben Archive zu Pius XII. geöffnet: Neben dem Apostolischen Archiv als größtem sind dies unter anderem die Archive der Glaubenskongregation, zwei Archive des Staatssekretariats, der Missionskongregation und der Dombauhütte von Sankt Peter. Im Falle des Pacelli-Papstes sind die Archive im Staatssekretariat mit ihren Berichten aus den Nuntiaturen besonders interessant, sowie die Archive der Glaubenskongregation.
Pius’ Verteidiger meinen, er habe alles versucht, um die Kirche zu schützen.
Für die Glaubenskongregation verriet Archivleiter Alejandro Cifres bei seiner Vorstellung, dass es in Rom bereits 1948 Unterlagen gab zu der Anregung, aus den Fürbitten am Karfreitag die Wendung »pro perfidis judaeis« (»für die treulosen Juden«) zu streichen. Das tat allerdings erst Johannes XXIII. im Jahr 1959. Ebenso fänden sich ein Bericht über antisemitische Tendenzen bei Priestern oder ein Vorgang über »Rassistisches Gedankengut unter der deutschen Minderheit in Brasilien«.
Anatol Steck vom USHMM in Washington, der vor zwei Wochen noch nach Rom kommen konnte, setzt auf gute Kooperation mit den Vatikan-Archivaren: »Wir sind abhängig von ihrer Arbeit, aber sie auch von unserer.« So erwartet Steck, im Laufe der nächsten Jahre vom Vatikan Kopien jener Dokumente zu erhalten, die mit dem Holocaust zu tun haben. Damit könne seine Einrichtung so etwas wie eine Außenstelle der Vatikanarchive werden.
Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf würde seine Arbeit gern mit jüdischen Kollegen gemeinsam machen, sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur. Vielleicht könne ab Herbst daraus sogar ein Projekt mit der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg werden.
Wie gehen die Historiker konkret vor? Sofern Akten nicht schon komplett digitalisiert sind, lassen sie sich anhand der Indexkataloge Dokumente aus den Archivkammern bringen. Dies geschieht anhand von Leitfragen: Was etwa kommt aus der Vatikan-Botschaft in Bern? »Wie und von wem wurde die Botschaft des Papstes in einem neutralen Land benutzt?«, so Wolf. »Dazu gehen wir die Kartons Blatt für Blatt durch und verzeichnen unsere Beobachtungen anhand mehrerer Kategorien in einem Schema.«
Mit dabei haben Wolf und sein Team bereits veröffentlichtes Material aus Archiven in anderen Ländern oder auch die elf Bände mit dem Material, das schon Paul VI. zusammentragen ließ. Angesichts erster Kontroversen um Pius hatte Paul VI. (1963–1978) eine Auswahl von Material zusammenstellen lassen. Es wurde 1999 einer katholisch-jüdischen Kommission zur Verfügung gestellt, die jedoch nach wenigen Treffen auseinanderging; man konnte sich auf kein gemeinsames Vorgehen einigen.
Hochhuth Bekanntlich wurde Pius’ Verhalten angesichts des Holocaust vor allem seit Rolf Hochhuths Theaterstück Der Stellvertreter besonders kontrovers diskutiert. Dagegen bezeichnete der Jesuit und Historiker Peter Gumpel bereits früher Hochhuth »als wissenschaftlich überholt«. »Streng gesehen« habe Gumpel recht, räumt Wolf ein, »denn das, was Hochhuth macht, ist eine Fiktion«. Dennoch komme kein Historiker, der sich mit Pius XII. beschäftigt, an dem Dramatiker vorbei. Wolf fragt sich: »Was passierte nach dem Hochhuth-Stück nach 1963 bei den Katholiken? Gab es eine Reaktion nach dem Motto: ›Wenn schon der Papst nichts unternahm, konnten auch wir kleinen Katholiken nichts unternehmen‹?«
Was die nun anstehende Arbeit in den Archiven angeht, mahnt Wolf zu Geduld: »Angenommen, wir stoßen auf eine Denkschrift, die die Frage thematisiert, wie der Vatikan mit den Informationen zur Judenvernichtung umgehen soll«, nennt er ein Beispiel. »Wer hat sie verfasst? Wie kommt sie in den Vatikan? Hat der Papst sie gesehen und etwas veranlasst?« Ein Dokument allein besagt oft nur wenig, erst als Puzzleteil kombiniert mit anderen Dokumenten ergibt sich ein Bild. »Dabei schauen wir auch nach Themen und Begriffen, die nicht so offensichtlich scheinen«, so Peggy Frankston vom US Holocaust Memorial Museum. Oder wie ein Archivar bei der jüngsten Konferenz andeutete: »Oft tauchen bedeutende Stücke dort auf, wo man sie am wenigsten erwartet.«